Brasilien – Regenwald

Universum 2008

Gelbe Alarmlichter im Dschungel

 

Die Vorstellung eines tropischen Regenwalds, mit seiner Artenvielfalt, der undurchdringlichen Busch mit den bunten Tieren – das ist reine Romantik. Ein Bericht aus der Wirklichkeit.

 

Der Dschungel ist eh super, denke ich. Wenn da nur nicht diese horse-flies wären! Ich habe keine deutsche Bezeichnung für sie, doch der englische Ausdruck ist treffend. Es sind fünffach vergrößerte bremsenähnliche Monstren. Sie säbeln und schneiden in meinem Fleisch herum. Kämpfen um mein köstliches Blut. Zum Glück – mein Evolutionsvorteil – suchen die horse-flies lange nach saftigen Stellen, sind also heikel und zudem nicht die schnellsten. Sie zu erschlagen, das ist jedoch kein Spaß: dieses schaurige Gefühl, einen Insektenpanzer zu zerdrücken. „Geht nicht anders“, sagt Marcelo trocken, „auch wenn wir hier nature preservation betreiben!“ Marcelo, knapp über 40, groß gewachsen, schwarzhaarig, erinnert ein bisschen an eine Figur aus Indiana Jones: ein brasilianischer Wissenschaftler, der auch Bühnenarbeiter sein könnte – oder Philosoph.

Es ist nicht mein erste Expedition, doch die erste in den Regenwald. Und was da rund um unser „Base Camp“ am Himmel hängt, das sind Regenwolken. Es beginnt jetzt zu schütten. Wenn die erste Erkenntnis jene war, dass es hier Insekten gibt, so ist die zweite: Im Regenwald regnet es tatsächlich.

Die Anfahrt war spektakulär – ein Dutzend Menschen in zwei Land Rovers ruckelten über schmale Wege, in die zunehmend Pflanzen hineinlappten und deren Boden immer matschiger wurde: drei Stunden Turbulenzen am Boden. Drei Flüsse mussten durchkreuzt werden, kniehohes Wasser. Dazwischen wacklige Holzbrücken, bei deren Überquerung die Insassen aus Sicherheitsgründen aussteigen – der erste Teil des Abenteuers liegt also bereits hinter uns.

Wichtigster Punkt von Marcelos Einführungsreferat: er klärt uns über die Natur der horse-flies auf. Ihre Bisse hinterlassen schmerzhafte, blutende Kleinwunden. Sieht man eine horse-fly auf einem Kollegen sitzen, so darf man ohne Vorwarnung drauflosschlagen: erstens macht das Spaß, zweitens ist einem das „Opfer“ noch dankbar. Nun gut, wie habe ich begonnen? Mit dem lockeren Spruch, dass der Dschungel eh super ist! Die horse-flies rauben mir noch den Verstand. Also: Wo stehen wir?

 

Wir stehen in Brasilien, im Bundesstaat Paraná, kaum 80 Kilometer von dessen Hauptstadt Curitiba. Trotzdem befindet sich Curitiba in einer anderen Zeit- und Gefühlszone. Wir stehen vor dem „Base Camp“, mitten in dunkelgrünen Bergen, dort, wo keiner mehr wohnt, dort, wo Wolken wie nasse Fetzen hängen. Und wo wir die nächsten zwei Wochen leben werden.

„Die Ziele des Projekts sind klar“, erklärt Marcelo, und 12 Leute lauschen gebannt, obwohl sie zu Beginn sein brasilianisch gefärbtes, doch perfektes Englisch nicht recht verstehen, weil es mit Fachvokabular durchsetzt ist, „wir identifizieren Habitate, geben unsere Erkenntnisse der lokalen Umweltpolizei weiter, bauen Netzwerke auf und sorgen für Aufklärung bei den Einheimischen.“ Marcelo, Chef einer Organisation namens „Projecto Puma“, kennt Brasiliens Naturlandschaft wie kein anderer. Wegen seines imposanten Fachwissens ist er der logische Leiter unserer Expedition – keiner kann besser als er einschätzen, wie rasch das Habitat des brasilianischen Jaguars, der Küstenstreifen der Serra do Mar, dahinschmilzt. Marcelo will mit unserer bescheidenen Hilfe dieses Gebiet nicht unweit des „Parque Nacional Saint-Hilaire” durchkämmen. Ziel: eine breit angelegte „Presence/Absence“-Studie: Gibt es noch Jaguare in Paraná?

Größtes Problem: die illegale Abholzung des Regenwaldes durch die Jäger der „palmitos“, der Palmenherzen. Im Gegensatz zur Amazonaspalme wächst die Palmenart im Küstengebiet nicht nach. „Der Jaguar verliert einen Breitengrad pro Jahrzehnt“, konstatiert Marcelo. Das Habitat in der Serra sei seit langem isoliert von den anderen Großkatzen-Lebensräumen in Mato Grosso, oder im Amazonasbecken. Im weiter nördlichen Küstengebiet existieren gerade noch 200 Jaguare, eine prekär lebende Population, die sich zu den übrigen Schwierigkeiten auch noch eine Inzest-Problematik einhandelt.

 

Die Regierung Paranás, inzwischen ebenso wie die brasilianische Zentralregierung in Umweltfragen sensibilisiert, steht prinzipiell, wenn auch oft zögerlich, auf Marcelos Seite: seine Arbeit ist erwünscht. Zur Aufklärung gehört auch die Verbreitung der Botschaft, dass den lokalen Farmern finanzieller Ersatz für von den Jaguaren gerissene Herdentiere geboten wird. „Das rechnet sich für beide Seiten“, sagt Marcelo, „die Zeiten, in denen Jaguare erschossen wurden, sollen vorbei sein.“ Einen Jaguar zu treffen – im doppelten Sinn – das ist ohnehin nicht einfach: nur in Notfällen nähert er sich menschlichen Behausungen. Nur dann, wenn das Gleichgewicht der Natur außer Kontrolle gerät – wenn das Futter fehlt, wenn er extrem hungrig ist.

Auch wir sind extrem hungrig. Erster Abend im Base Camp: Spaghetti mit Tomatensauce. Das Camp besteht aus einer kleinen Holzhütte mit überdachtem Vorhof, in der sich die Küche befindet, die Toiletten, die Dusche. Wir selbst schlafen in Zelten, jedes auf einer 40 Zentimeter erhöhten Holzplattform: um Schlangen und sonstige Untiere fernzuhalten. Die Unterbringung ist solide, doch eine solche „Biosphere“-Expedition hat natürlich absolut nichts mit den 5-Sterne-Hotels gemein, die unsere Touristenkollegen gar nicht weit von hier, an den Stränden bis Florianópolis, bevölkern. Der Regenwald vergibt im Hotelbereich bestenfalls einen halben Stern – und trotzdem möchte ich schon am ersten Abend nicht mehr tauschen. Ich schließe den Reißverschluss meines Zelts und drehe die Taschenlampe ab. Dieses Zelt ist meine Wirklichkeit für die nächsten Tage. Eine Wirklichkeit, die sich auch geographisch in der Realität befindet: Ein Zirpen und Zischen, Flimmern und Wimmern, das mich gemeinsam mit dem zunehmend prasselnden Regen in den Schlaf wiegt.

 

Frühstück: Kaffee, Tee, Brot, Eier, Tomaten, brasilianisches Quittengelee und zwei große Käseblöcke, Cheddar und Mozarella. Ich fülle meine Tupperware mit Proviant, denn wir werden den ganzen Tag unterwegs sein. Marcelo macht uns auf einem 10-Kilometer-Marsch mit den Gegebenheiten vertraut. Das Lesen des Kompass, die Standortbestimmung per GPS: Bewegung im Gelände, überlebensnotwendige Kulturtechniken.

Erstes Gebot im Regenwald sind die „Wellingtons“, also die Gummistiefel. Zum Durchqueren des rotbraunen Schlamms und der glasklaren Bäche. Wenn oben Wasser reinkommt: macht nichts, man wird trocknen. Wer Lust hat, kann auch ein Stück schwimmen.

Jetzt lernen wir, Wildschwein-, Ozelot- und Tapirspuren zu unterscheiden. Wir folgen den schmalen Forstwegen der Einheimischen, nehmen aber gelegentlich auch „animal paths“. Vielversprechende Orte werden mit Kamerafallen bestückt: wir befestigen an einem Baum eine mit Plastikhüllen geschützte Kamera, die mit einem Bewegungsauslöser versehen ist. So hat Marcelo in den letzten Jahren an vielen Orten der Welt Jaguar- und Pumafotos geschossen. Alles eine Frage der Perspektive: Nur gut postierte Kameras produzieren erwünschte Bilder.

Marcelo hat die Untersuchungs-Region in 2x2-Kilometer-Zellen eingeteilt. In den nächsten zwei Wochen werden wir sie, Quadrant für Quadrant, in kleinen Grüppchen durchkämmen. Manche sind nahe vom Base Camp, andere nur durch Gewaltmärsche zu erreichen. Jede Zelle soll möglichst drei Mal durchforstet werden. Auch die kleinste Entdeckung wird am „data sheet“ vermerkt. Auf dem Weg durch das Gestrüpp und den Schlamm wird mir mit einem Mal klar: Fall der eine oder andere von uns tatsächlich Jaguar-Paparazzi-Gedanken hegt, wird er wenig zu tun kriegen. Wir sind nicht auf Safari, sondern bestreiten den harten, wissenschaftlich-pfadfinderischen Alltag.

 

Zu den Gesprächen mit Einheimischen fahren wir ins Dorf. Distanz: höchstens zwanzig Kilometer. Doch wegen der schwierigen Lehmstraße und Flussquerungen dauert die Fahrt 90 Minuten. Candonga ist ein Örtchen – oder besser, eine Streusiedlung – in dem unsere Anwesenheit Aufsehen erregt. Jeder will mit uns sprechen. Und viele haben die „Onça Pintada“ (der Jaguar heißt auf Brasilianisch „bemalte Unze“, während das internationale Wort aus der Tupi-Sprache kommt) schon persönlich gesehen. Wobei sich die meisten Geschichten in Luft auflösen – „Mein Bruder wurde letzte Woche fast von einer Onça Pintada angefallen“, lallen die Trinker in der Dorfbar – wirklich interessant wird es erst, wenn die Wildhüter erzählen.

Senhor António lebt seit zwanzig Jahren in einer Holzhütte nicht weit von unserem Base Camp. Er fungiert für die lokalen Behörden als Umweltpolizei. Wenn er illegale Palmenherzenjäger sieht, meldet er seine Sichtung. Merkt er frühmorgens wieder einmal, dass eines seiner Hühner fehlt, dann fällt sein Verdacht auf den Jaguar. „Meine Hunde, die immer sehr aufmerksam sind und schnell anschlagen, merken absolut nichts. Das muss eine Onça Pintada sein.“ Marcelo ist skeptisch. Er tippt eher auf Ozelots: „Sind ebenfalls geschickte Jäger. Ein Jaguar würde nur kaum so nahe an die Hütte kommen, wegen einer so mickrigen Beute.“

Marcelo geht auch in die Schulen Candongas, begeistert die Kinder mit seinen Geschichten. „Sie müssen den Wert der Großkatzen erkennen“, sagt er. Und am Abend spricht er vor der Dorfgemeinde. Er schließt aus seinem Material, dass es für den Jaguar im Untersuchungsgebiet nicht schlecht aussieht. Beutetiere wie Wildschwein, Tapir, Weißbartpekari und Gürteltier, sie alle sind vorhanden. Leider muss für den sprichwörtlichen Appetit der Katzen eben ein außerordentlich großes Reservoir all dieser Spezies da sein. Ein  Jaguar braucht täglich vier Kilo Nettofleisch, das Marcelo auf 8 bis 10 Kilo lebendiges Fleisch aufrechnet.

„„Ich versuche diese Bewusstseinsbildung auch an den offiziellen Stellen“, sagt Marcelo, „denn eventuelle Geldgeber möchten leider immer dort investieren, wo große Populationen sind, weil die Gefahr des Scheiterns geringer ist. Das wäre fatal. Es geht hier um die letzten Individuen. Jeder einzelne Jaguar ist schützenswert.“ Manchmal hatte Marcelo schon Erfolg: der bereits verloren geglaubte Puma im Bundessstaat Santa Catarina kam in den Neunzigern zurück.

 

Im Regenwald sind die großen Abenteuer die kleinen. Der Weg durch den Busch kann ermüden: Bilanz – eine einzige Tapirspur in zwei Stunden. Dafür steigt die Hitze, bricht ein Regenguss nieder, dampft das Unterholz, Wasser dringt in die Stiefel. Und dann plötzlich, wie als Belohnung, steigt eine spektakuläre rote Blüte aus dem ewigen Grün. Oder man findet eine Tatzenspur im Matsch. Bald fühle ich mich wie der große Ozelot-Spuren-Spezialist. Überall, wo ich auftauche, war das Ozelot – ein Tagschläfer – bereits. Sichtbar sind andere Tiere: auffliegende Vögel, weinflaschengroße Leguane. Die britischen Kollegen beginnen Limericks zu reimen: „I´d like an awful lot / to see an ocelot / but I´d be happier / to see a tapir.” Gelegentlich fotografieren wir größere Spuren – ein Puma?, ein Jaguar? Am Abend zeigen wir Marcelo unsere Bilder – aber so einfach ist es doch nicht. Der hat Erfahrung. „Hast du das mit deiner Faust gemacht?“ Natürlich erkennt er uns nie den Jaguar an.

Zurück im Base Camp nach einem anstrengenden Tag. Neueste Forschungen ergeben, wir haben Frösche im Klo – und die Leguane wagen sich heute ganz nahe an uns heran. An den Abenden zeigt Köchin Neúsa ihre brasilianische Kunst: Feijoada, Kartoffelauflauf mit Käse, Reisfleisch, Mandioca. Ein lokaler „Vinho Canção“ (von irgendjemandem mit „Singing Wine“ übersetzt) aus dem 5-Liter-Kanister wird unser populäres Getränk. Er schmeckt säuerlich-schwach, halb Wein, halb Traubenessig. Egal – den Durst löscht man hier ohnehin mit Wasser. Man kann ja aus den Bächen trinken.

Ich gehe meist früh schlafen. Am Abend vor dem Zelt sehe ich dieses Flackern in der Nacht. Zuerst denke ich an ein Irrlicht. Aber gibt es denn Irrlichter? Spiegelungen? Plötzlich begreife ich, es sind Glühwürmchen! Ganz andere allerdings als die mir bekannten: die Regenwald-Glühwürmchen blitzen nur kurz auf, fliegen ein Stück weiter, blitzen wieder auf – ein hinreißendes Schauspiel von gelben Alarmlichtern im Dschungel.

 

Nach einer Woche entdecken wir die ersten Pumaspuren – gar nicht weit vom Base Camp! Und die ersten Kamerafallen werden eingeholt. Das beste Foto zeigt eine Tapirmutter mit ihrem Jungen – aber noch keine Aufnahme von einer Großkatze. Marcelo meint, wir brauchen Geduld. Ich blicke ihn an: „Geduld?“ Marcelo nickt: „Wissenschaftler brauchen immer eine Menge Geduld.“ Und in diesem Moment habe auch ich sie, alle Geduld dieser Welt, und ich denke: Expeditionen wie diese sind vielleicht die neue Form, einen Urlaub zu verbringen. Körperliche Herausforderung, Kontakt zur Realität, Mitarbeit an sinnvollen Projekten. Und manchmal einen Kollegen schlagen dürfen, auf dem eine horse-fly sitzt! Dazu gibts natürlich noch, sozusagen gratis, ein paar andere Problemchen, die nach Spezialisten verlangen. Zum Beispiel ist das Klo im Base Camp dauernd verstopft. „Ich kümmere mich darum“, sagt Marcelo, „denn für solche Probleme braucht man einen Wissenschaftler.“

 

 

Biosphere Expeditions

Studienort: brasilianischer Regenwald im Bereich Curitiba/Matinhos, Bundesstaat Paraná, nahe des Örtchens Cadonga.

Biosphere Expeditions ist eine mehrfach ausgezeichnete, gemeinnützige Organisation und versteht sich als Brückenschlag zwischen Forschern mit wichtigen Artenschutzprojekten, aber ohne Arbeitskräfte und Finanzierung, und enthusiastischen Laien, die bereit sind durch Einsatz ihrer Arbeitskraft im Urlaub und ihrem Expeditionsbeitrag diese Artenschutzprojekte möglich zu machen. Mitmachen kann jeder, auch ohne spezielle Vorkenntnisse und Fitness; auch Altersgrenzen gibt es nicht. Einzige Voraussetzung sind Englischkenntnisse. Weitere Informationen: www.biosphere-expeditions.org und Büro Deutschland 0049 7127 980242.

Biosphere Expeditions & Land Rover

Land Rover unterstützt Biosphere Expeditions im Rahmen seines „Fragile Earth“-Programms zum Schutz der Natur. Weitere Informationen www.landrover.at und www.landroverexperience.com.