Las Vegas

"Die Presse" 2007

Die Spinnerei des Glücks

Schauplatz: Las Vegas, einer der Spielsäle in einem Mega-Hotel am Strip. Tag oder Nacht? Unklar. Wo genau? Schwer zu sagen, vielleicht im „Bellaggio“ (sprich: „Be-la-tschi-oh“), oder im Pionierhotel „Flamingo“, oder vielleicht ganz woanders. Selbst geschulte Besucher können Spielsäle nicht unterscheiden. Meist in Fußballfeld-Größe, ähneln sie einander: Auf der einen Seite Slotmaschinen mit phallischen Zieharmen, Tasten und blinkenden Displays. Auf der anderen Seite die „echten“ Spieltische, mit grünen Teppichauflagen und Groupiers. Hier rollt das Plastikgeld. Manchmal kommt eine Kellnerin mit Tablett vorbei: wer spielt, erhält Freigetränke.

Ein schnurrbärtiger Groupier führt einen Roulettetisch, an dem zwei schnurrbärtige Männer und eine weißhaarige Dame mit traurigen Augen kleine Beträge auf Even und Odd, auf Corners und Streets setzen, selten auf ganze Zahlen. Mit deprimierender Regelmäßigkeit gewinnen und verlieren sie. Ein junger Schwarzer lehnt am Tisch, einziger Zuseher. Bei Gewinnen lächelt er. Wenn der Groupier die verspielten Jetons einstreift, bleibt sein Gesicht unbewegt.

Jetzt nähert sich von hinten ein Pärchen um die vierzig – die Frau mit Minirock, der Mann im Iron-Maiden-T-Shirt. Sie setzen zwanzig Dollar auf die schwarze „4“. Der Groupier dreht den Kreisel, und die Kugel bleibt tatsächlich auf der „4“ liegen! Gejohle, Jubel, Aufruhr, die Freundin umarmt Iron Maiden, was für ein Glück!, und sogar der junge Schwarze umarmt ihn. Der Groupier erhält Trinkgeld. „Ab zur Kassa!“, sagt die Frau mit dem Minirock, und Iron Maiden lächelt zustimmend, denn ganz offensichtlich schätzt er ihren Realitätssinn. 700 Dollar sind was. Während sie sich entfernen, seufzt die weißhaarige Dame. Setzt zehn Dollar auf die rote „30“. Aber jetzt kommt die schwarze „10“.

 

Vorsicht! Die meisten Roulettes hier folgen dem US-Stil. Neben der Null gibt es da noch eine zusätzliche, zuverlässige Verlustchance mit der naiv-selbstbewussten Bezeichnung „Doppel-Null“: doppelter Ertrag für die Bank. Europäer und sonstige tendenziell Besonnene – jedenfalls ist der Außenstehende geneigt, das zu vermuten – meiden Tische amerikanisch-unersättlicher Bauart mit Empörung.

Solange man jedoch nicht der pathologischen, chronischen, dostojewskischen Sucht verfällt, gelten Roulette & Co als charmante Freizeitbeschäftigung. Andererseits steht fest, Las Vegas hat sich zum stadtgewordenen Spezialisten für Süchte entwickelt, zu einer Traumfabrik ohne Vergleich, einem vibrierenden 24-Stunden-Moloch. Und Glamour-Skeptiker werden eines Besseren belehrt: Las Vegas ist das modernste, hoffnungsloseste und irrste Weltwunder, eines, das Beschreibende in einen Adjektivrausch verführt, aus dem sie sich selbst durch konzentrierte Streichungsorgien niemals ganz befreien können.

Natürlich entpuppt sich Glücksspiel bei Betrachtung eindeutig als eines der feigsten Businesses der Welt: Investition mit garantiertem Gewinn. Aber egal! Die freiwilligen Opfer, wir alle, profitieren vom süßen Schwebezustand der Hoffnung – und wer lässt sich nicht gerne täuschen von der Spinnerei des Glücks? Glänzendes Symbol für Hoffnung ist der mehrere Kilometer lange Strip, dem Hauptboulevard, an dem sich die Hotels in recht fußmarschfeindlichen Distanzen auffädeln. So stellt jeder Komplex seine architektonisch abgeschlossene Welt dar und bemüht sich, Besucher sowohl mit Glitzerramsch als auch mit Inhaltlichem an sich zu binden – und die Ausgänge sind überall ganz besonders schwer zu finden. So bleibt man produktiv staunend stecken in der römischen Wunderwelt des „Ceasars Palace“, im ägyptisierenden „Luxor“, im „MGM Grand Hotel“ mit seinen fünftausend Zimmern – benannt nach Metro-Goldwyn-Meyer – oder im coolen, neu eröffneten „Wynn“ des gleichnamigen Immobilienmoguls, dessen Schlichtheit sich wohltuend von den Themenhotels abhebt.

Im „Mirage“, einst Besitz des Steve Wynn, traten fast täglich Siegfried und Roy auf, bis zum Unfall mit dem weißen Tiger 2003 – als eine der Wildkatzen Roy anfiel und damit der Karriere des spät geouteten Magierduos den finalen Prankenschlag versetzte. Danach hielt der „Cirque du Soleil“ Einzug: mit der fantastischen, doch in seiner Perfektion auch erschreckend leblosen Beatles-Show „Love“, die sowohl Fans als auch Feinde von Musicals keinesfalls verpassen sollten: sie liefert tolle Argumente für beiden Seiten. Weit unglaublicher, weniger kontroversiell und mit Sicherheit authentischer ist hingegen der Roller Coaster rund ums Hotel „New York, New York“, der zwei Loopings hinlegt, einen in Schieflage. In keinem Lunapark der Welt erlebt man einen vergleichbaren Thrill für den Gegenwert von 12,50 Dollar.

 

Schnelllebiges Geschäft: Das Traumgebilde kalkuliert beinhart, baut Wunder auf und reißt sie nieder. Letztes Jahr eröffnete ein Hooters-Hotel etwas abseits vom Strip, es musste wegen mangelnder Auslastung bald schließen. Auch große Player wie Donald Trump kriegen trotz massiver Bemühungen keinen Fuß in die Tür von Las Vegas. Die Platzhirsche der Westküste sind bei der Vergabe neuer Spiellizenzen extrem konservativ.

Natürlich gibt es auch 2007 extra Weihnachtsnews. Am Südende des Boulevards eröffnete nun die Einkaufsstadt „Town Square Las Vegas“ mit Flagship Stores von Hermes, Prada oder Manolo Blahnik auf 2.400 Quadratmetern – als gäbe es nicht schon genug Möglichkeiten für alle, die ihr Geld nicht in Jetons wechseln möchten. Weiter hinten, an einem anderen Ende der 1,7-Millionen-Einwohner-Stadt, findet man noch Downtown Las Vegas, das Wettparadies der Nachkriegszeit. Es ist längst zur Randerscheinung mutiert, die Szene verlagert sich in den Westen.

Las Vegas kennt keine Tränen um Vergangenheit. Diesen 13. November wurde das „Frontier Hotel“ abgerissen, ein historisches Gebäude: Elvis Presley hatte hier 1956 seinen ersten Auftritt. Medien zelebrierten die spektakuläre Sprengung mit der klassisch-amerikanischen Mischung aus Nostalgie – niemals Sentimentalität – und Neugier. Wen würde nicht ein wohliger Schauer überkommen angesichts des tiefen Sturzes eines Giganten?

Für Einzelpersonen hängen die Fallstricke niedrig, doch wir alle dürfen, sind wir mutig genug, uns der Maschinerie ausliefern, dürfen an der großen Parade am Strip teilhaben, 365 Tage im Jahr. Als kleines Rädchen auf zwei Beinen, das eigensinnig einem der Weltwunder zustrebt. Irgendwo unter uns, im Getümmel, sieht man Herrn Iron Maiden, eng umschlungen mit seiner Minirock-Freundin. Heute lassen sie es sich gut gehen. Wirklich Geld haben zwar wieder einmal – wie immer – nur die Casino- und Hotelbesitzer verdient. Doch sie, die Glücklichen in der Menge, sind füreinander die Sieger des amerikanischen Traums.