Libyen

„Der Standard“, 8. Oktober 2004


Land der grünen Türen

Der Revolutionsführer erkennt die Zeichen der Zeit. Frühe Libyenreisende erzählen, dass 1969, nach seiner Machtübernahme, im Zuge der Antiimperialisierung, alle lateinischen Inschriften verschwanden – inklusive „Departure“-Schilder am Flughafen. Selbst Cafébesitzer kratzten das Logo „Coca Cola“ aus den Aschenbechern. Fünfunddreißig Jahre später, in Zeiten der Islamisierung, geht der Weg zurück: Coca Cola ist willkommen, Blair, Berlusconi und Powell ebenfalls.

Tripolis wächst aus dem Sand. Westlich und östlich des Stadtkerns herrscht halbindustrielle Einöde, drinnen drängen sich arabische Gässchen. Doch es erhebt sich kein Marktgeschrei, kein Come-visit-my-shop: die Geschäftsleute glänzen durch eine ganz unarabische (und deshalb vielleicht umso arabischere) Zurückhaltung, das Angebot zum Teetrinken impliziert keinen Folgekauf.

Im Innenstadtcafé „Fethy“ treffen sich die Männer zu kühlem Nussfrappé und gefüllten Croissants. „Das Erdöl macht uns zum reichsten Land Afrikas, aber wir importieren nur“, klagt Ali, Besitzer der libyschen Spielart eines 1-Euro-Shops. „Ich sage den Kollegen, entfernt doch das blöde ´Made in China´ mit Schmirgelpapier! Bei Touristen kommt das nicht so gut.“ Sein Freund Nasser erzählt von chinesischen Geschäftspartnern, bei denen er tausend Paar Schuhe bestellt hatte, die pünktlich, jedoch allesamt um 4 Nummern zu klein geliefert wurden. „Vergiss die Chinesen“, sagt Nasser. „Ich handle nur noch mit Vietnamesen – billiger, zuverlässiger, Charakter besser!“

Doch niemand kommt wegen der Souvenirqualität nach Tripolis – die 1,7 Millionen-Stadt beeindruckt zunächst durch die schiere Anzahl grüner Türen und grüner Fenster, Farbe des Propheten als Tupfer auf meditativ weißer Hintergrundfolie. In der Neustadt steckt der Verkehr zwischen den angeschlagenen Viktor-Emanuel-Gebäuden, dem einzigen Großartigen, was vom blutigsten Kapitel italienischer Kolonialgeschichte (1911-1943) mit einem von der Weltöffentlichkeit weitgehend ignorierten Völkermord (100.000 Opfer) blieb.

Bis vor kurzem galt Libyen als beschränkt bereisbarer Schurkenstaat. Die Volksrepublik („Jamahiriya“) ging ihren Sonderweg, der Revolutionsführer hat in seinem „Grünen Buch“ (1974) ein System an Merksätzen entworfen, von denen er nun abzuweichen geruht. „Das Grüne Buch macht die Menschen mit der glücklichen Entdeckung des Weges zur direkten Demokratie bekannt“, denn fest steht: „Die tyrannischsten Diktaturen existieren im Schatten der Parlamente.“ Als letzten Winter Schlagzeilen um die Welt gingen, der Revolutionsführer rüste einseitig ab, jubelte der Westen. Man empfand den Rückzieher als Resultat des „gewonnenen“ US-Kriegs im Irak, es hieß, der eine Schurke habe Angst bekommen, ihn könne das Schicksal des anderen ereilen.

In Wirklichkeit ist der Revolutionsführer in der arabischen Welt isoliert. In der eigenen Bevölkerung stößt die Abrüstungsaktion teilweise auf Unverständnis. „Wir haben seit dreißig Jahren im Glauben gelebt, die Militarisierung sei unerlässlich, um die palästinensischen Brüder zu befreien“, erklärt Ali. „Plötzlich ist keine Rede mehr von denen.“

Man redet von Fremdenverkehr, 1.800 Kilometer unerschlossene Küste als Hoffnungsgebiet. Omar Al-Taief, Tourismusminister aus dem Clan des Revolutionsführers: „Heute kommt jährlich eine halbe Million Besucher, wir möchten uns auf zehn Millionen steigern.“ Die Sehenswürdigkeiten vor der Haustür: 80 Kilometer westlich von Tripolis liegt Sabratha, einst Umschlagplatz für Großtiere und Elfenbein, hundert Kilometer östlich erheben sich die Ruinen von Leptis Magna, unter Augustus ausgebaute römische Modellstadt.

Zum All-Inclusive-Paradies fehlt neben der Infrastruktur auch der Alkohol. Lange war der Verkauf streng verboten, lange wurde, wie die Libyenspezialistin Romana Kanzian im „Profil“ schreibt, „alles verkauft, was bezahlt werden kann. Afrikanische Botschaftsangestellte verdienen sich ein einträgliches Zubrot, wenn sie einen Teil ihrer monatlichen Alkoholvolumina auf den Schwarzmarkt bringen.“ Das könne sich ändern, seit Libyen 2003 einen Vertrag mit Heineken abgeschlossen hat. Derart weitreichende Entscheidungen trifft traditionell der Volkskongress, durch ihn ist laut den Schriften des Revolutionsführers „das Problem des Regierungsinstruments gelöst (...), die Massen regieren sich selbst, und damit ist das Demokratieproblem abschließend gelöst“.

Die meisten Teile Libyens benötigen indes keine Demokratie: die Fläche, 22 mal Österreich, ist hauptsächlich Wüste. Im Südwesten, am Acacus Gebirge, liegt die Kleinstadt Ghat, Oase mit zweitausendjähriger Altstadt und einem außergewöhnlichen Event: dem jährlichen Tuareg-Festival Ende Dezember. Hier wird nicht Touristen etwas vorgetanzt – es gibt kaum welche – sondern lebendige Folklore praktiziert. Höhepunkt: Das Kamelrennen vom fünfzehn Kilometer entfernten Flughafen bis zu einer weiß gesprayten Ziellinie auf einer Sandfläche an den Dünen Ghats.

Seit Blair, Berlusconi und Powell hier waren, steht Libyen im Umbruch. Aufsehen erregte jüngst die (gescheiterte) Bewerbung für die Fußball-WM 2010. Ein erstaunliches Projekt, denn 1974 schrieb der Revolutionsführer noch: „Die Tausenden, die die Stadien füllen, um zu schauen, zu applaudieren und zu lachen, sind dumme Menschen, die diese Aktivität nicht selbst ausüben.“