Lissabon – Portugal


„Der Standard“, 1. Juni 2001


Schnurrbart ab für Europa

Rui Zink, 41, Autor, (“Hotel Lusitano”), ist eine kontroversielle Figur im Lissaboner Kulturleben. In den Achtziger Jahren organisierte er spektakuläre Straßenhappenings, in den Neunzigern wurde er Talkmaster (“Die Nacht der bösen Zungen”). Heute lebt er als Universitätsprofessor im Lissaboner Stadtteil Conde Redondo.

Rui Zink, Lisboeta aus Leidenschaft, zeigt uns 10 Geheimspots in der Metropole am Rand Europas. Unterwegs mit seinem Übersetzer Martin Amanshauser besichtigen die beiden zehn interessante Orte, die so nicht im Reiseführer stehen. Zum Ausschneiden und selbst probieren.

Alle kennen den Rossio, das Expo-Gelände und das Bairro Alto. Lissabon, Stadt des fado (nur keine “typischen” Fado-Abende besuchen!), Stadt der saudade (lustianische Sehnsucht nach der eigenen Traurigkeit), Stadt des bacalhau (für Anfänger: zum Kennenlernen nur in Auflaufform essen). “Wenn man sich Zeit nimmt, kann ein Moloch wie Lissabon auch eine Stadt mit hoher Lebensqualität sein”, sagt Rui Zink, und der muss es wissen.

01 – Centro Cultural de Belém

Das nunmehrige Kulturzentrum (Standort: zwischen dem Jerónimos-Kloster und jenem Turm, von dem Vasco da Gama zu seinen Weltreisen aufbrach), ein Bauwerk von zeitloser Überdimensionierung, wurde als Sitz für die erste portugiesische EU-Präsidentschaft gebaut. Es spiegelt die Großmannsucht der frühen Neunziger Jahre und dient heute als Veranstaltungsort. “Das entstand knapp nach der Zeit, als sich alle unsere Politiker die Schnurrbärte abrasierten, um europareif zu sein”, erzählt Zink, “an Wochenenden schleppe ich die Kinder hierher, die spielen gerne in dieser Betonwüste. Nebenan besuchen wir das Marinemuseum und den netten Park.”

Praça do Império 1, täglich geöffnet. Stadtteil Belém. Mit der Schnellbahn drei Stationen vom Cais do Sodré.

02 – Miradouro da Graça

In der Graça, dem hochgelegenen Stadtteil hinter dem Castelo São Jorge und der Alfama, steht zwar scheinbar die Zeit still, doch die Wohnungspreise steigen beständig. Hier lebt man wie im Dorf und verpflegt sich im lokalen Pingo Doce (der portugiesische Billa), der sich in der alten Markthalle eingenistet hat (gutes Mitbringsel: gelber Luso-Senf der Marke Calvé). Die legendäre Straßenbahnlinie 28 kreuzt den Hauptplatz neben der Graça-Kirche mit ihrem Soloturm und der bewirtschafteten Aussichtsterrasse. Nur die wenigsten wissen, dass sich dreihundert Meter weiter rechts nach einem steilen Anstieg der schönste Punkt Lissabons befindet. Vom Miradouro bietet sich ein spektakulärer Weitblick über zwei Drittel der Stadt, inklusive dem Castelo, dem Tejo und den nördlichen Stadtteilen.

Miradouro da Graça, Calçada do Monte, Straßenbahn 28 bis Largo da Graça.

03 – Pavilhão Chinês

Jeden Samstagabend wird das Bairro Alto zum Brennpunkt des Geschehens (Geheimtipp: das Capela im südlichen Abschnitt der Rua da Rosa). Bis in die Morgenstunden tanzt und trinkt das junge Lissabon in den Straßen – oder steht einfach klassisch lusitanisch in der Gegend herum.

Etwas abseits des Trubels läutet man an einem tiefroten Tor, und der livrierte Kellner vom Pavilhão Chinês macht Gesichtskontrolle. Die besten Tische dieser Abendbar, die weder ein Pavillon, noch chinesisch ist, sind meist vakant, aber “reserviert”. Hinter Glasvitrinen türmen sich Zinnsoldaten, Flugzeugmodelle und Porzellanpuppen: ein Paradies für Modellbauer oder Spielzeugnostalgiker.

In feinstem Plüschambiente treffen sich Journalisten und Studenten und trinken hochprozentigen Aperitif oder antialkoholische Longdrinks. Das Hinterzimmer gehört den billardspielenden Societyhirschen in französischer Designerkleidung.

Pavilhão Chinês, Rua Dom Pedro V. 89-91, auf der Höhe der Rua da Rosa, täglich geöffnet.

04 – Elevador da Bica

Einen Katzensprung vom Bairro Alto befindet sich der unbekannteste von Lissabons legendären Straßenbahn-Aufzügen: der Elevador da Bica. Tiefgelb und graffitiverziert bewältigt er den steilen Anstieg vom Cais do Sodré zum Vergnügungsviertel in drei Minuten.

Ein paar junge Leute haben sich zusammengetan, um diesen toten Winkel mit Leben zu erfüllen. Das Ergebnis ist, unter anderem, WIP – work in progress – der etwas andere In-Friseur neben den Schienen des Elevador. “Nach so einem Haarschnitt”, zittert Zink, der hier was gegen seine Geheimratsecken tut, “lasse ich mich in meinem Wohnviertel einige Zeit lang nicht blicken. Mein regulärer Friseur ist schon 70 und glaubt, er hat das Monopol auf meine Haare.”

Vom Interrail-Punk bis zum Architekten aus Paris treffen sich bei WIP alle, die schräg oder Ausländer sind. Das Konzept: Haarstudio und T-Shirt-Verkaufstelle in einem Laden, gegenüber (Vorsicht, Elevador kreuzt auch abends!) das friseureigene Beisel, aus dem man sich die bica oder das imperial in den Schurraum schleppen kann.

Wer Heimweh nach Österreich hat, kann sich einen Termin bei der Vorarlbergerin Sabine P. geben lassen – die Miteigentümerin hat in Wien und London geschnitten und versteht was von ihrem Job. Der Schnitt ist extrem teuer für Lissabon, aber extrem billig für Europa.

Friseur WIP, work in progress, www.wipzone.com, Rua da Bica Duarte Belo 47-49, am Elevador da Bica.

05 – Metro

Die einsame Metrolinie Lissabons wurde Ende der Neunziger Jahre im Zuge einer Renovierung, die auf eine Zerstückelung hinauslief, in drei Stränge diversifiziert. Jetzt fährt man doppelt so lange, dafür ist der wahnwitzige Stilmix einzigartig. “Wir haben mittlerweile die schönste Metro Europas”, lächelt Zink, “aber auch die unpraktischste. Eines Tages hat mir ein Freund bei der Station Rotunda einen Abschneider gezeigt: anstelle den unterirdischen Binnenweg mit seinen endlosen Verästelungen zu nehmen, steige ich seitdem kurzfristig an die Oberfläche und spare hundert Meter Fußmarsch.”

Architektonisch interessante Stationen: Parque, Olaias, Oriente, Entre Campos. Einzelticket PTE 100.-

06 – Estufa Fria

Der im Volksmund einfach parque genannte Park oberhalb der Avenida da Liberdade gehört zu den vielleicht uncharmantesten Sehenswürdigkeiten der Stadt, sieht man von der netten Esplanada oberhalb des Pavilhão dos Desportos ab.

Die Estufa Fria, das etwas heruntergekommene Gewächshaus, ist jedoch äußerst sehenswert: ein Monument wohldurchdachter Glasarchitektur. An Wintertagen der ideale Ort für einen tropischen Spaziergang.

Estufa Fria, täglich 9-18, Eintritt PTE 500.-, im Parque Eduardo VII, Metro Rotunda oder Parque.

07 – Feira Popular

Wer sardinhas und carapaus liebt, der ist vielleicht mit den Familienlokalen in der Alfama originaler bedient, aber die Feira Popular, ein leicht heruntergekommener Lunapark an der Peripherie, hat das originalere Flair.

“Das ist die Lissaboner Anti-Expo”, sagt Zink, “hier ist alles noch wie in den schäbigen Achtziger Jahren, bevor Portugal der EU beitrat.” Ein Paradies für Kinder, Erwachsene kommen nicht wegen den harmlosen Ringelspiel-Vergnügungen, sondern zum Fischessen. Hoher Kuriositätsfaktor!

Feira Popular, Avenida da República, Métro Entre Campos, täglich 19-02, Sonn- und Feiertage 15-02, Eintritt PTE 400.-

08 – Über den Tejo

Wer denkt in Lissabon nicht dran, eine Tejofahrt zu unternehmen? Einziges Problem: Touristenangebot null, und wohin fahren die ganzen Schiffe eigentlich? Antwort: die großen blauen brauchen 30 Minuten lang nach Barreiro (vorbei an der Lisnave, der größten Werft des Landes), die kleinen orangefarbigen sieben Minuten nach Cacilhas. Das Örtchen, verträumt, mittelalterlicher Stadtkern, ist berühmt für seine Gartenlokale mit den Tintenfisch- und Oktopusspezialitäten (lulas, choucos, polvo).

Und ans Meer? “De Lisboa vou fugir, vou para a sol da Caparica”, heißt es im schönsten Punkrock-Heuler der Achtziger, “aus Lissabon flüchte ich in die Sonne der Caparicaküste.” Der beliebte Stadtstrand befindet sich nicht im mondänen Estoril-Cascais-Gebiet. Um zur volkstümlicheren Caparica zu kommen, muss man nur die Ponte 25 de Abril, die ehemalige Salazar-Brücke, überqueren.

Costa da Caparica, erreichbar per Bus ab Praça de Espanha (Metro Espanha). Mehrere Strände, verbunden mit einer billigen Strandbahn. Rückfahrt eventuell mit dem Schiff von Tavira (25 Min. Gehzeit).

Boottrips durchgehend ab dem Hafengebäude in Terreiro do Paço, direkt am Praça do Comércio.

09 – Jardim da Estrela

Lissabons relaxtester Park war früher ein Zentrum für den Drogenverkauf im Westteil der Stadt. Heute sitzen die Studenten am netten Café beim kleinen Ententeich vor ihren Skripten. Vorsicht beim Verzehr der bifana: der Garten verfügt über die ungeniertesten Tauben der Europäischen Union.

Jardim da Estrela, gegenüber der Estrela-Kirche, Zugang von Avenida Álvares Cabral oder Calçada da Estrela (Straßenbahn 28).

10 – Der Verkehr

In der europäischen Verkehrstotenstatistik hat Portugal einen Riesenvorsprung, und auch in Lissabon ist die Rücksichtslosigkeit auf den Straßen tägliches Brot. “Die Portugiesen sind kein gewalttätiges Volk – solange sie unbewaffnet sind. Aber das Auto ist ihr Fetisch”, meint Zink, der nach dem Tod des Kindes von Bekannten eine portugalweit Aufsehen erregende Bürgerinitiative gegen die Raserei gestartet hat. “Versuchen Sie einmal, eine Straße zu überqueren. Ihr Bein ist schneller ab, als Sie denken. Die Portugiesen lieben Kurven, da geben sie Gas, da flutscht es dann so richtig. Leider kriegt man als Kämpfer gegen den Autowahnsinn schnell den Ruf eines Querulanten.”

Im gesamten Straßennetz täglich von Neuem, Eintritt frei.


Literatur:

Rui Zink, geb. 1961 in Lissabon. Auf Deutsch liegt vor: “Hotel Lusitano”, Roman, 1998, “Apokalüpse Nau”, Roman, 1999, „Afghanustan!“, Roman, 2002.