Lissabon, 25 de Abril – Portugal

„Die Presse“, April 1999.


25 Jahre nach dem 25 de Abril

Nelkenrevolution. Der Niedergang des portugiesischen Ständestaates begann 1968 mit einer symbolträchtigen Szene: António de Oliveira Salazar stürzte live im Fernsehen vom Sessel – der längstdienende Diktator Europas (36 Jahre) wurde immer gebrechlicher, und mit ihm brach langsam auch sein Lebenswerk auseinander, der hermetische „Estado Novo“.

Mit Marcelo Caetano war rasch ein Nachfolger gefunden, der für behutsame Liberalisierung stand. Aber auch Caetano konnte den fatalen Weg in den Bankrott nicht mehr bremsen: Lissabon führte im afrikanischen Dschungel einen blutigen und aussichtslosen Krieg gegen die Freiheitskämpfer aus Angola, Moçambique und Guiné-Bissau. Das Scheitern der USA in Vietnam vor Augen, glaubten nur noch traumverwirrte Nationalisten an einen Endsieg.

Salazar erholte sich auf seinem Landsitz, umgeben von feigen Lakaien: bis zu seinem Tod klärte ihn niemand über die neuen Machtverhältnisse auf. Täglich rief er sein Kabinett zusammen, erteilte Anweisungen, entließ und beförderte. Im letzten Interview vor seinem Tod (1970) wurde er auf seinen Nachfolger angesprochen und erklärte, Caetano sei „durchaus ein fähiger Mann. Nur schade, dass er abgelehnt hat, in der Regierung mitzuarbeiten.“

Neben der unterdrückten Opposition gehörte das Militär zu den eigentlichen Unzufriedenen, und so war es auch einem General vorbehalten, den Startschuss dazu zu geben, was als „Nelkenrevolution“ in die Geschichte eingehen sollte. Im Februar 1974 erschien António de Spínolas Buch „Portugal e o Futuro“, in dem er eine Abkehr von der hoffnungslosen Afrikapolitik forderte. Die Männer um Spínola, erzkonservativ und vaterlandsbewusst, wollten die Notbremse ziehen. Denn inzwischen drohte ein linker Volksaufstand unerhörten Ausmaßes – SP und KP waren noch immer verboten, ihre Führer Mário Soares (der spätere Präsident, heute 74 und zukünftiger EU-Abgeordneter) und Álvaro Cunhal scharrten in Paris bzw. Moskau in den Startlöchern.

1999. Es ist eine illustre Runde, die der honorige TV-Kulturchef Carlos Pinto Correia (seines Zeichens die froschgesichtige Variante von Karin Resetarits) zusammengesammelt hat: Jorge Sampaio, Präsident der Republik, José Saramago, frischgebackener Nobelpreisträger für Literatur, Teresa Salgueiro, Portugals international erfolgreichster Pop-Exportartikel („Madredeus“) und weitere 400 geladene Gäste, darunter Minister, Poeten und TV-Stars, kurz: die gesamte Prominenz aus Gesellschaft und Politik. Sie alle sind gekommen, um die tausendste Ausgabe von Pinto Correias „Acontece“ zu feiern, dem europaweit einzigen täglichen Kulturmagazin zur besten Sendezeit.

Die Portugiesen feiern sich selbst. 25 Jahre nach der Revolution ist Portugal so etwas wie ein Urmitglied der EU (seit 1986), auf dem Wirtschaftsektor hat das einstige Armenhaus Europas Griechenland hinter sich gelassen. Die Analphabetenrate ist von 30% auf 8% zurückgegangen, und die stinkenden Autos einer Babyboomer-Generation verstopfen täglich zur Stoßzeit die Metropole am Tejo. Auch kulturell hat Portugal aufgeholt: das Prestigeprojekt EXPO 98 ist über der Bühne gegangen, neben der Brücke des 25. April (ehemals Ponte Salazar) hat man ein zweites Monument über den Tejo gebaut, die Ponte Vasco da Gama, längste Brücke Europas. Und heute fragt keiner mehr so genau nach den EXPO-Bilanzen, die mit einer veritablen Enttäuschung endeten, weil die meisten Besucher nicht aus dem Ausland kamen, sondern aus Portugal.

Pinto Correias etwas absurde Feierstunde für die Kultur (als Höhepunkt überreicht Nobelpreisträger Saramago den „Überraschungspreis“ ausgerechnet dem Präsidenten Sampaio) ist charakteristisch für das neue Portugal: eine Erfolgsstory des Kapitalismus, gemacht von einer Aufsteigergeneration. Viele der jungen Zuseher waren noch nicht geboren, als Westeuropas einzige original-kommunistische Revolution den Vereinten Reaktionären aller Länder kalte Schauer über den Rücken jagte.

Paradoxerweise war sie durch einen „linken“ Militärputsch in die Wege geleitet worden. Unter den Gallionsfiguren Otelo und Vasco Lourenço wurde das Generalquartier der berüchtigten PIDE (der lokale Folter-KGB) in der Rua António Maria Cardoso gestürmt, wo auch die einzigen Opfer – vier Tote – zu beklagen waren. Diktatornachfolger Caetano hatte sich, geschützt von der GNR, der Republikanischen Nationalgarde, in der Kaserne am Largo do Carmo versteckt. Ihm gelang die Flucht ins Exil.

Junge Studenten brachten die Frohbotschaft bis ins letzte Dorf, aber es heißt, selbst Monate nach der Revolution hätten viele Menschen in der Provinz noch nicht an den Wechsel geglaubt – so stabil waren die Grundfeste von Salazars „Estado Novo“ in den Köpfen. Der kurze revolutionäre Sommer dauerte bis Winter 1975/76 – klassisch, mit allem, was so dazugehört. General Spínola wollte gegen die linke Übermacht mit kläglichen Mitteln (ein Flugzeug, zwei Hubschrauber) putschen und musste auch exilieren. Die Verfassung bekam eine revolutionäre Ausrichtung, aber eine engere Anbindung an die Sowjetunion konnte verhindert werden.

Die lang ersehnte Agrarreform (sprich die Enteignung der Großgrundbesitzer) wurde mit Elan in Angriff genommen – inzwischen ist jedoch über die Hälfte des Alentejo (die Provinz südlich Lissabons) wieder fest im Besitz der alten Familien. Heute unterscheidet sich das EU-Portugal nicht mehr von einer westlichen Durchschnittsdemokratie – nur noch ein Kuriosum in der Namensgebung der beiden Großparteien weist darauf hin: zur Zeit regiert die Sozialistische Partei (PS) unter António Guterrres, während die konservative „Sozialdemokratische Partei“ (PDS) in Opposition ist.

25 Jahre danach wollen die Veranstalter zum Geburtstag auf ziemlich kapitalistische Art alle Rekorde sprengen: geplant ist ein Riesenfest auf dem EXPO-Gelände. Panzer, Kriegsschiffe, Helikopter werden gemeinsam mit fein geschmückten Soldaten aufmarschieren, und auf echt portugiesische Art wird das Volk aufgefordert, das zu tun, was es am 25. April 1974 so großartig beherrschte: mittun.

Böse Zungen behaupten noch heute, die Volksmassen seien damals nur aus Neugier auf die Straße gezogen: um zu sehen was los ist, um auch dabei zu sein. So wurde aus einem Militärputsch gegen das Regime Caetano ein Volksaufstand erster Klasse.

War die Nelkenrevolution weitgehend unblutig, so wird 1999 sehr wohl geschossen: in allen 306 Administrativbezirken Portugals geht ein Feuerwerk in die Höhe, das seinesgleichen sucht: „Portugal wird explodieren“, sagt Veteran und Mitorganisator Vasco Lourenço, der das Spektakel von Satelliten übertragen und live ausstrahlen lassen will.

Zu einem großen nationalen Jubeltag gehört aber auch ein gehöriges tagespolitisches Hickhack: die Abgeordneten der Sozialistischen Partei (PS) wollen beim Gesamtausverkauf nicht mitmachen. Sie bestehen darauf, auch heuer ihre Sitzung wie traditionell üblich im Parlament in São Bento abzuhalten. Und Carlos Pinto Correia wird sich für sein Kulturprogramm einen weiteren prominenten Gast einladen.