Macau – China


„Der Standard“, 11. Februar 2000

Glasierter Hund und Drachenboot

Hat sich jemand beschwert über den Jahr-2000-Trubel? Ich erinnere mich an einen miestöpfischen Leserbrief in der Boulevardzeitung. Also, mein lieber Herr Lebesmühlbacher aus St. Veit an der Glan: wenn Sie wirklich stänkern wollen, fahren Sie nach Macau! Dort wird man Ihnen das Millennium so richtig um die Ohren fetzen. Transparente, Schaufensterverzierungen, Süßigkeiten: überall steht 2000. Die Chinesen (ja, Sie würden vermutlich sagen: die Schlitzaugen) sind nämlich alte Zahlenmystiker.

In Macau sind die meisten Chinesen Kantonesen und überdies katholisch. Das heißt natürlich nicht, dass sie ihre Götter vernachlässigen, im Gegenteil, die Tempel florieren. Ein Zusatzgott schadet nie. Wichtig ist ihnen der Glaube an Omen und Glückssträhnen – denn die Hälfte der Einnahmen der 22-km2-Enklave kommt aus dem (in Hong Kong und China verbotenen) Glücksspiel. Auch nach der Verhaftung des Schwarzgeldbosses „Broken Tooth“: Jedes Wochenende platzt Macau durch Horden Spielsüchtiger aus allen Nähten, und die Triaden kassieren ab. Aber nicht Nummer Vier setzen im Casino, Herr Lebesmühlbacher! Vier bringt Unglück (im Hotel finden Sie keinen 4. Stock, die Zahl ähnelt dem chinesischen Wort für Tod)!

20. Dezember 1999. Nach 442 Jahren portugiesischer Herrschaft ging das schrulligste Stück Europäischer Union verloren – Macau (chinesisch: Aomen), 500.000 Einwohner, mit dem Jetfoil (Tragflügelboot) eine knappe Stunde von der britischen Ex-Kronkolonie Hong Kong entfernt, kehrte mit Magengrimmen zum Mutterland zurück: Die Stationierung von tausend Soldaten lieferte beim feierlichen Handover einen kleinen Eklat, der portugiesische Präsident Sampaio reiste verärgert ab. „Ein Land, zwei Systeme“, Pekings weise Doktrin für Hong Kong, Macau und irgendwann auch Taiwan, garantiert Kapitalismus für weitere fünfzig Jahre: wichtiger als Schnickschnack wie Meinungsfreiheit oder Demonstrationsrecht.

Dabei ist die „Cidade do Nome de Deus de Macau, não há outra mais leal“ (Stadtwappen) mit ihrem knappen halben Jahrtausend portugiesischer Kultur eine alte Dame, verglichen mit Hong Kong (das sich die Briten Mitte des 19. Jahrhunderts mit Waffengewalt einverleibten): Das Reich der Mitte schenkte 1557 Macau samt den Nebeninseln Taipa und Coloane den portugiesischen Kaufleuten, die sich bei der Bekämpfung von Piraten im Perlflussdelta verdient gemacht hatten – drei Hühneraugen an der Zehe Chinas.

Die Macaenses, ursprünglich Nachfahren von portugiesischen Händlern und malaiischen Frauen, sind bis heute ein eigenwilliger Menschenschlag: cooler als die ewig gehetzten Hong Konger, weltgewandter als die Landeier aus der Provinz Guangdong. Linguistisch entwickelte sich durch Zuzug von Südchinesinnen (1650 etwa befand sich „nur eine Frau in Macau, die in Portugal geboren wurde“) ein Kreolisch aus kantonesischer Syntax mit portugiesisch-malaiischem Vokabular.

Außerordentlicher Nebeneffekt: von diesen zwei extrem dickschädeligen Kulturen ging keine in der anderen auf. „Das klassische Macaense wird höchstens noch von zwanzig alten Menschen gesprochen“, klagt der Dichter Graciete Batailha, einer der 5.000 Macau-Portugiesen, „doch es lebt weiter in Liedern und Witzen.“ Von den Kaffeehäusern bis zu den Schulen ist alles hübsch getrennt. Vorkommen kann es höchstens, dass ein Chinese aus Feng Shui-Gründen darauf besteht, auf dem katholischen Friedhof begraben zu werden. Der geringe Austausch hat der Stadt nicht schlecht getan: Modernes und altes China fügt sich in Europas Rahmen und erzeugt eine salzig-rauhe Geruchs- und Geschmackswelt. Zwischen Schustern, Stempelerzeugern und Räucherstäbchenläden wird getrocknetes Schweinefleisch feilgeboten, über allem liegt der Gestank des Brackwassers aus dem Hafen. Unter den Wolkenkratzern nötigen sich Fahrräder, Rikschas und Busse ihren Weg durch den für Kontinentaleuropäer mörderischen Linksverkehr.

Gemischt wird beim Essen: Macau-Gerichte nennen sich „African Lemon Chicken“ (Copyright Angola) oder „Capella“ (Schweinefleisch mit Mandeln und Goa-Gewürzen) und bilden gemeinsam mit dem kantonesischen Dim Sum eine phantastische Melange. So absorbierte Südchina Erdnuss und Süßkartoffel, Fisolen, grüner Salat, Kohlsprossen oder Kresse; aber auch Ananas, Guava, Papaya, Chili. Eigenprodukte: unter anderem Hühnerkrallen, Schlangen, zerstoßene Insekten und glasierte Hunde. „Was Füße hat und nicht ein Tisch ist, was Flügel hat und nicht ein Flugzeug ist, die Kantonesen werden es essen“, rümpft man in Beijing die Nase.

Am liebsten ißt der Macaense in einer der Dai pai Dongs (Straßengarküchen): Fleisch- und Meeresfrüchte-Spieße sowie Dim-Sum-Knödel in scharfen Curry-, Soja- und Ingwersaucen. Danach verschnauft er vielleicht im Wundergarten Lou Lim Ieoc, gelegen zwischen zwei Verkehrsschlagadern. Unter einem Pavillondach spielen alte Männer Ma-Jongg und kommentieren die Spielzüge eifrig im nasalen Kantonesisch, das von Mandarin ungefähr so weit entfernt ist wie Schwedisch von Polnisch. Der Besucher muss unbedingt über die neun Mal gewundene Brücke gehen – bringt Glück, weil die Geister, die einem überall hin folgen, eine derartige Kurvenorgie nicht ausstehen können und abgeschüttelt werden. Daneben liegt der Tempel Kun Iam Tong im Nebel von Spiralen aus Räucherstäbchen, man berührt ehrfürchtig die Kugeln im Maul von zwei Steinlöwen. Und über allem hockt wie eine Kröte der Farol da Guia, der fette Leuchtturm mit 32 km Reichweite.

Das portugiesische Erbe hat die Ruínas de São Paulo hinterlassen, einst das gigantischste christliche Bauwerk im Orient, 1835 durch ein Feuer zerstört – bis auf den Vorderteil der Fassade. Oder das orangefarbene Hotel Lisboa, 24 Stunden täglich für Hungrige und Spieler geöffnet, an der ehemaligen Waterfront. Ehemalig deshalb, weil der Platz eng wird in Macau, die Wolkenkratzer schmal und hoch. Doch es gibt ein Zaubermittel: die Reclamação (Landgewinnung) hat tief in den Charakter der Strände eingegriffen. Sand und Bitumen ins Hafenbecken: Die Nebeninseln Taipa und Coloane wachsen zusammen – auf schamlose Art wird die alte Küste wegbetoniert. Coloane Village besitzt immerhin noch einen verträumten Dschunkenhafen. Daneben kann man sich im efeubewachsenen Restaurant Além Mar ein echt Lissaboner Pastel de Nata genehmigen oder sich am Munizipalmarkt von den Marktfrauen mit großem Hallo begrüßen lassen. Im Hintergrund lauern schon die Bagger.

Ja, mein lieber Herr Lebesmühlbacher, haben Sie schon einmal Lust verspürt, der einzige Fremde zu sein? Dann wäre ein Abstecher nach Kanton (Guangzhou) etwas für Sie: von Macau in zweieinhalb Stunden zu erreichen, mit seinen 6 Millionen Einwohnern ein brodelndes Verkehrschaos. In den letzten zwanzig Jahren sind hier im Zuge der Liberalisierung 300.000 Kleinunternehmen aus der Erde geschossen. Am Quing-Ping-Markt (eine Art Take-Away-Zoo) wird von der Katze bis zum Waschbären alles verkauft. Wohlgemerkt, wir befinden uns im kulinarischen Zentrum Chinas: Geboren sein in Suzhou, heißt es im Sprichwort (berühmt für schöne Frauen), das Leben in Hangzhou verbringen, dem prächtigsten Ort der Welt, essen in Kanton und sterben in Liuzhou, wo das feinste Holz für Särge hergestellt wird. Allerdings wird dort jede Mahlzeit zum Abenteuer, wo die Speisekarte ausschließlich aus chinesischen Schriftzeichen besteht, keiner ein Wort Englisch spricht, und einem über die Schulter hinweg Tee aus einer meterlangen Schnabelkanne in die Tasse gezischt wird.

Wem das zu schräg ist, der braust mit dem Jetfoil nach Hong Kong, betrachtet vom Victoria Peak die Skyline Hong Kong Islands und Kowloons, unternimmt einen Ausflug mit den bunten doppelstöckigen Straßenbahnen (Nicht schwarzfahren! Fahrer kassiert beim Ausstieg!) oder shoppt sich und seine Kreditkarte einfach nach allen Regeln der Kunst in die Hölle.

Zurück zu unserem Herrn Lebesmühlbacher aus St. Veit: Lust bekommen? Seit der Eröffnung eines eigenen Flughafens (1995, dank Landgewinnung) fliegt die taiwanesische Eva-Air Macau an, via Bangkok und Taipei. Nein, nicht schon wieder in Bangkok aussteigen, Herr Lebesmühlbacher, vergessen Sie die lieben Gewohnheiten (ich weiß, ich weiß, Sie schätzen Thailand ausschließlich wegen der Kultur). Kein Interesse? Kein Neid auf das feine macaensische Leben? Dann zähle ich Ihnen einmal die Feiertage auf, die man sich in Macau genehmigt.

Chinesisches Neujahrsfest (meist Anfang Februar, mit Orangen- statt Christbäumen), Laternenfest zum ersten Vollmond des neuen Jahres, Ching-Ming-Fest (Allerheiligen in China), A-Ma-Fest (Meeresgöttin), im Mai Buddhas Geburtstag, das spektakuläre Drachenbootrennen (zu Ehren eines Mandarins, der sich vor 2300 Jahren ertränkte, wird Reis ins Wasser gestreut, damit hungrige Fische seine Leiche verschonen), das Kuan-Tai-Fest, das Jungfernfest, das Fest der hungrigen Geister (Papiernachbildungen von Luxusgütern werden verbrannt: Pkws, Teppiche, Prunkgebäude), Mittelherbstfest oder Mondkuchenfest, Chung-Yeung-Fest (an dem man hochgelegene Orte aufsucht, um den Katastrophen zu entfliehen). Dazu kommen portugiesische Feiertage wie die Märzprozession, der „25 de Abril“ (Nelkenrevolution 1974), die Procissão da Nossa Senhora de Fátima, der Dia de Camões, der Tag des Lissaboner Stadtheiligen Santo António, der Tag des João Batista (Johannes der Täufer, Macaus Schutzheiliger – half die Holländer vertreiben), der Tag der Vergraulung des letzten Piraten (1910), der portugiesische Nationalfeiertag, der anti-spanische 1.12. (1640), und schließlich Mariä Empfängnis.

Und immer nichts arbeiten! Na sehen Sie, Herr Lebesmühlbacher, sind ja nicht nur Schlitzaugen, die Chinesen, sondern auch Schlitzohren! Und darin ähneln sie Ihnen. 2001 feiert Macau bestimmt ein zweites Mal den Beginn des Jahrtausends. Vielleicht noch eine kleine Bitte: bleiben Sie daheim. Oder fahren Sie weiterhin nach Bangkok. Ohne Sie ist es hier so wunderschön.