Marokko


„Der Standard“, 7. Februar 2003

Martin Amanshauser war in Marokko und hat sich an den Beispielen von Marrakesch und Fès seine Gedanken über islamische Stadtkultur gemacht.

Die Negierung der städtischen Ordnung

Marokko-Nicht-Kenner züchten hartnäckige Vorurteile: Haschisch an jeder Ecke, ein Heer ungebetener Tourist-Guide-Kletten; und überhaupt herrscht diffuse Islamgefahr. Stimmt aber alles nicht! In den Nuller Jahren zeigt sich der Atlasstaat als sicherer, farbiger, vitaler Ort, mit reizvollen Widersprüchen zwischen Berberkultur, Islam und den Einflüssen der westlichen Welt. Fundamentalismus ist hier kein Lebensprinzip, es herrscht liberale Denkart. Urbane junge Leute, die Mädels unverschleiert, die Jungs in Schnürlsamt, könnte man perfekt in österreichische Reality-Trash-Projekte wie “Starmania” oder “Taxi Orange” einfügen: perverse Westphantasie?

Aus dem Blickwinkel des christlichen Europa war die islamische Stadt jedenfalls immer ein Rätsel: keine Selbstverwaltung, kein politisch ambitioniertes Bürgertum, keine Munizipalität – für Stadtforscher und Historiker eine Horrorvision. Diese “scheint auf schreckliche Weise der Einheit zu ermangeln”, “hat keine neuen Formen geschaffen, keine urbane Struktur hervorgebracht”, sei “eine unbeständige, unorganische Ansammlung von Vierteln und disparaten Elementen”, sie “negiert die städtische Ordnung selbst” (Xavier de Planhol). Marokko, mit seinen Königsstädten Marrakesch, Fès, Meknes und Rabat und seiner Metropole Casablanca, bestätigt und widerlegt solch hilflose wissenschaftliche Ansätze auf eindrucksvollste Art.

Ewiges Motiv der islamischen Stadt: von der Straße abgewandte Häuser, keine öffentlichen Plätze. Im Zentrum der Medina, das weiß jeder, steht die Moschee. Daran schließt der Souk an, wo sich wie Zwiebelschalen ein Handwerk ans nächste fügt. Im Gegensatz zur europäischen Stadt (zurückgehend auf das Modell der antiken Polis) ist nicht die Straße, sondern das Haus das dynamische Bauelement. Marokko bietet für dieses System ideale Studienbedingungen; doch siehe da, manchmal kann alles anders sein. Nehmen wir Marrakesch und Fès, die lebendigen Zentren im Landesinneren, beide etwa 200 Kilometer von Casablanca entfernt, archetypisch und doch ganz eigenständig.

Keine großen Plätze? Mitnichten. Marrakesch hat den “Jemaa el Fna”, spektakulärster Platz der arabischen Welt, Umschlagort für Materielles und Nicht-Materielles, Garküche überdimensionalen Ausmaßes, Treffpunkt für Touristen, Zauberer und Tagediebe. Bei Einbruch der Dunkelheit werden die verkäuflichen Teppiche von den Dächern genommen, und die Essensstände beginnen zu dampfen. Der ganze Jemaa el Fna sieht aus wie ein Trainingsgelände für Dampf-Lokomotiven. Neben den Ständen mit frischem Fleisch, Gemüse und Schnecken werden Schlangen beschworen, und irgendwo sitzt der undurchschaubare Geschichtenerzähler mit seinen zwei hypnotisierten Igeln. Die Igel leben wirklich. Wenn sie ein paar Schritte in Richtung Publikum torkeln, holt er sie zurück und rollt sie wie Spielzeug neben sich über den Asphalt.

Alle sind gekommen: Berber und Araber, Nomaden und Bergbewohner, die von dorther stammen, wo dünne Ziegen blätterfressend hoch auf den Bäumen stehen. Über schmale Wege durch die Mondlandschaften Zentralmarokkos reisen die Neuankömmlinge, vorbei an den grauen buschigen Pflanzen, die in der Nacht wie kleine Rauchherde aussehen. Ein Gewirr von Menschen überflutet die Außenstraßen von Marrakesch in Richtung Medina, mit ihren Alleen von Limonenbäumen, die gerade so beschnitten sind, dass 1,75 Meter große Personen bequem darunter passen. Jetzt sind sie hier. Zwischen Kutschen, Taxis und Mofas ordnet sich jeder im Gesamtkunstwerk Jemaa el Fna ein. Vielleicht auch der Zitronenverkäufer, der bei Elias Canetti (“Die Stimmen von Marrakesch”) nur eine einzige Zitrone anzubieten hat?

Für den Außenstehenden bleibt die Atmosphäre märchenhaft, also jenseits aller Verständlichkeit. Deshalb sitzen die Besucher auf einer der vielen Dachterrassen und lassen sich von den Wundergerüchen anwehen und von den Wurlbewegungen der Menge faszinieren. Man trinkt dazu den marokkoweit populären “thé à la menthe”, grüner Tee mit Minzblättereinlage. Von unten hallt der suggestive Singsang des Bettlerchors durch die Luft, ein Joint-Venture von zwölf blinden Männern mit Blechschalen. Jede errungene Münze wird weitergegeben, geht der Reihe nach durch alle Hände und endet in einer Box – ein ausgeklügelt egalitäres System als Vorbeugung jedweder krummen Tour.

Schlägt im rostroten Marrakesch (700.000 Einwohner) das Herz auf einem Platz, so ist das gelb-graue Fès (800.000 Einwohner) ein kompaktes Stadtgebilde mit verwinkelten Gassen und voneinander durch Mauern, Straßen und Niemandsland scharf abgetrennten Stadtvierteln. 280 Hektar Medina ergibt das, genannt Fès-El-Bali, gefüllt mit Mensch und Stein, ein produktives Durcheinander, das keinen motorisierten Verkehr duldet, sondern nur Handkarren und Maulesel. Fès lässt von der ersten Minute an keinen Zweifel: Es gibt ein Marokko jenseits des touristischen Bauchtanz-Klamauks.

In der lebendigen Altstadt werden die Traditionen gepflegt: Herstellung von Kämmen aus Kuhhorn, Verleih von Riesentöpfen für die Hochzeitsfeier, wundervoll duftende öffentliche Backstuben, bei dem kleine Jungen den von der Mutter zusammengerührten Teig vorbei bringen, um ihn dort aufbacken zu lassen. Alles in allem bietet Fès eine grandios wilde Mischung aus Sekundärproduktion, Dienstleistung und Gegenleistung. Die Aufgabenbereiche sind exakt festgelegt: Der Messerschleifer (ohne ihn läuft gar nichts, seine Kundschaft besteht aus Metzgern, Schreinern und Privatpersonen) ist verantwortlich für Schaft und Klinge, er repariert jedoch auch Schirme. In der Straße der Schmiede herrscht Hitze und ohrenbetäubendes Eisengeschlage. Ein kleiner Junge legt sich am Amboss extrem ins Zeug. Schockierend: Kinderarbeit. Fürs Foto verlangt er Entgelt. Okay, man versteht, er ist nicht so verelendet, wie man dachte, er spielt den Touristen einfach Kinderarbeit vor. Aber bange Frage: Ist auch das Kinderarbeit? Irgendwo inmitten der unendlichen Menschenschlange sitzen drei ältere Männer in einem Verschlag und spielen gelassen Karten. Über ihnen hängen ein paar Dutzend Schlüssel: das Immobilienbüro von Fès-El-Bali.

Die älteste Gerberei und Färberei von Fès, die “Schouara”, befindet sich seit 1276 am Rand der Medina. Von oben betrachtet ähnelt der betrieb einer gigantischen Bienenwabe. Die Felle liegen eine Woche zur Enthaarung in einer Kalklösung, dann zehn Tage zur Entkalkung in Taubenmist, drei Tage in Weizenspreu und über zwei Wochen in einer Lösung von Tamariskenblüten. Noch heute wird hier Safran für Gelb verwendet, Klatschmohn für Rot, Indigo für Blau und Antimon für Schwarz. Die jungen Männer, die da in den runden Löchern bis zu den Hüften in bunten Lösungen stehen, haben einen auslaugenden, dreckigen Job – verdienen jedoch 25 Euro pro Tag, kein übler Lohn für lokale Maßstäbe. Den bestialischen Gestank registriert man nach ein paar Wochen wohl nicht mehr. Die gefärbten Felle werden – Platzmangel – auf den Friedhöfen getrocknet, im Niemandsland zwischen den Stadtteilen. Denn dort ist endlich Raum; Freiraum für Lebende, Tote und Tiere. Die Schreie des Muezzins, die man meiner Ansicht nach in einem Reiseartikel über ein muslimisches Land nicht unbedingt jedes Mal zu erwähnen braucht, dringen hier gar nicht mehr hin – na also. Ein paar Schafe blöken um die Gräber, ein kleiner Junge spielt mit ihnen Torero.