Yangon, Mandalay, Bagan – Myanmar

„Der Standard“, Herbst 2004

Martin Amanshauser war in Myanmar und hat einiges erfahren über den anarchistischen Charme, den nur Diktaturen produzieren. Er weiß jetzt auch, dass man Pagoden bauen soll, um einer Wiedergeburt als Frosch oder Ratte zu entgehen.


Wer trifft, wird selig

Keiner hat das britische Hinterindien mit seinen langen, stickigen Mittagsstunden und dem ultramarinblauen Himmel konziser beschrieben als George Orwell in seinem Roman „Burmese Days“. U Po Kyin, der fette Beamte und Günstling der Kolonialmacht, der sich in Rechtsfällen „von beiden Parteien bestechen ließ und dann den Fall nach streng juristischen Grundsätzen entschied“, spinnt im Urwald sein Netz an Intrigen: Gelegenheit zu Orwells schärfster Gesellschaftskritik.

Burma (englisch), Birma (deutsch) oder Union von Myanmar (offizielle Neubezeichnung), das hat immer Politik bedeutet – und repräsentiert die koloniale Prägung des alten Asien. 52 Millionen Einwohner auf einer Fläche von zwei Mal Deutschland, 135 Ethnien und noch mehr Sprachen, ein Moloch mit weiß ausgesparten „restricted areas“, und mit lokalen Mafiagruppierungen, die die Grenzgebiete zu Thailand und China kontrollieren. Die Kärntnerin Inge Sargent, die einen Shan-Prinzen geheiratet hat, steht mit ihrer Biografie „Mein Leben als Sao Thusandi, Prinzessin der Shan“ exemplarisch als Zeugin für die Unterdrückung der Minderheiten. Die Geschichte ihres Mannes Sao Kya Seng, dem fortschrittlichen Herrscher, der seinen Grundbesitz umverteilt, endet nach dem Militärputsch 1962 tragisch – mit Verschleppung oder Mord.

Myanmars Individualtourismus wird durch den gesetzlichen Umtausch von 200 US-Dollars bei der Einreise – gegen Niedrigwertscheine zum offiziellen Kurs – nicht gerade angekurbelt, deshalb herrscht akute Abwesenheit der Traveller mit ihren extrabilligen Dreadlocks aus der Bangkoker Khao San Road, die dem Tourismus in Südostasien sein Klischeebild verpasst haben. Dennoch boomt Burma: immer mehr Menschen, viele davon in Gruppenform (Zwangsumtausch fällt weg), verirren sich dorthin, wo behauptet wird, dass Asien noch so ist, wie es früher war.

Zunächst verblüfft die Hauptstadt Yangon, früher Rangoon, mit einer der größten Sehenswürdigkeiten der Welt: die Shwedagon, Heiligtum des Theravada-Buddhismus, deren zentrale Stupa verfertigt wurde aus „mehr Gold als die Bank of England besitzt“. Ringsum erstreckt sich ein Palast- und Klostergebiet von erschreckender Vehemenz, hunderte Pagodentürmchen, weiße und goldene Zahnstocher. Erstaunlich sind auch Yangons britische Verwaltungsgebäude, die Vielfalt der Gemüse- und T-Shirtsorten rund um den Bogyoke-Markt und die Magerkeit der Hagebuttenverkäufer. Sofort mischt sich wieder die Politik ein: Irgendwo am Rand der Innenstadt deuten die Taxifahrer verstohlen auf eine Gasse – hier wohnt unter Hausarrest die Friedensnobelpreisträgerin von 1991, Aung San Suu Kyi.

Ist der Besuch von Schurkenstaaten unmoralisch? Dem Myanmar-Reisenden schlägt vielerorts Skepsis entgegen. Man hat gelegentlich von der obskuren Militärjunta gehört, die 1988 die Studentenproteste blutig niederschlug, von Massenvergewaltigungen, von Kindersoldaten. Myanmar gilt als eifriger Stammkunde bei Amnesty International. Zuletzt sorgte die Festnahme der buddhistischen Nonnen Ma Than Htay und Ma Tin Tin Oo für Aufsehen, die vor dem Rathaus von Yangon rote Fahnen mit fliegenden Pfauen geschwenkt hatten, Symbol der studentischen Opposition. Auf Flugblättern forderten sie die Senkung der Preise für Grundnahrungsmittel, die Freilassung politischer Gefangener und das Mitspracherecht der Nationalen Liga für Demokratie (NLD).

Die NLD unter Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi gewann 1990 die freien Wahlen, die Tochter des ermordeten Nationalhelden Aung San wäre die legitime Präsidentin, lebt jedoch unter Sanktionen. Ihr 85%-Sieg ist angesichts der verronnenen Zeit auch nicht mehr ganz wahr. Man kolportiert, die Generäle würden auf sanfte Öffnung setzen – eine Studie der Österreichischen NGO „respect, Institut für Integrativen Tourismus“ kommt zu dem Schluss, ein Boykott des Tourismus würde „derzeit vor allem auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen“ und würde „die Politik des Militärregimes nicht verändern“.

Htay Thet, Gymnasialprofessor aus Yangon und im Zweitberuf Schwarzmarkt-Guide, der in der Gegend der Shwedagon seine Dienste anbietet, witzelt unterdessen mit dem gepflegt anarchistischen Charme, den nur Diktaturen produzieren können: „Myanmar hat zwei Fernsehkanäle. Einer gehört dem Staat, der andere dem Militär.“ Sein Gesicht hellt sich auf. „Na ja, das ist das gleiche momentan.“ Vor der Front einer verwitterten Spelunke mit der Aufschrift „The first Café“ deutet Htay Thet auf den Verkehr: „Das wahre Land der Gegensätze. Unsere Autos haben das Lenkrad rechts – und trotzdem herrscht Rechtsverkehr! Die Generäle müssen irgendwas falsch verstanden haben.“

Auch in Mandalay, der zweitgrößten Stadt des Landes, sitzen die Autolenker auf der äußeren Seite. Einiges hat sich verändert, seit George Orwell Mandalay als „untolerierbar heiß und dunstig“ beschrieb, mit einem üblen Ruf für fünf Produkte, die allesamt mit dem Buchstaben P begännen, „pagodas, pariahs, pigs, priests and prostitutes“. Im 21. Jahrhundert zerfranst sich das Zentrum Zentralburmas, geprägt von einer Mischung aus chinesischer Stadt- und birmesischer Landkultur.

Mandalay liegt am Ayeyarwady (früher Irrawaddy; die neuen korrekten Schreibungen, seit 1989 im Sinne der Entkolonialisierung eingeführt, sind selbst ein Politikum, da sie mit der herrschenden Elite identifiziert werden), der sich über mehr als zweitausend Kilometer vom Himalaya-Massiv in den Golf von Bengalen erstreckt. Von hier aus startet das luxuriöseste Verkehrsmittel der Union. Die „Road to Mandalay“, ehemaliges Rheinschiff und später Hotelschiff in Dresden, 1995 herantransportiert und renoviert, bietet bis zu 120 Passagieren Unterkunft und befährt die 135 Kilometer von Mandalay nach Bagan.

Sie ist kein Transportmittel für Einheimische wie die Passagierschiffe der einst weltweit größten Flussflotte, der „Irrawaddy Flotilla Co.“, deren 600 stählerne Dampfkreuzer in den Dreißigerjahren jährlich neun Millionen Menschen transportierten. Sie bietet dem Westtouristen Luxus, und ihr Anblick sorgt für Aufruhr in den Dörfern mit ihren Bambus- und Teakholzdächern. Sogar Ochsenkarren halten an, es kommt zu einem Winken und zu einem Zurückwinken, und beide Seiten geraten in das matte Grübeln desjenigen, der begreift, dass die eine Welt die andere nie ganz verstehen wird.

Der Irrawaddy liegt als Spiegelfläche in der Sonne, die „Road to Mandalay“ fährt ihren eigensinnigen Kurz mit Minimalgeschwindigkeit. Die Route ist das heikle Spiel eines Kapitäns mit dem niedrigen Wasserstand. Meist helfen Lotsenboote mit Wasserstandsstangen, eine Zentimeterarbeit. Dazwischen tummeln sich all jene Boote, die zufällig kein Swimmingpool am Oberdeck haben, so als wollten sie zeigen, was so alles läuft in der wirklichen Welt: Dieselfähren, Bambusfloße, Fischerschaluppen.

Ziel der „Road to Mandalay“ ist Bagan – die zweite große Attraktion von Myanmar, ein Pagodenfeld von gigantischen Ausmaßen, das einem Bauwettstreit unterschiedlichster Herrschergenerationen zu verdanken ist, die hofften, ihr Seelenheil zu sichern. Einst standen auf der Fläche von zehn Quadratkilometern 13.000 braunrote und hellgraue Stupas, nach einigen Erdbeben sind immerhin noch 2.000 übrig. Der Besucher hätte Gelegenheit, seine Dollars in eine Ballonfahrt zu investieren, um sich einen Überblick zu verschaffen. Doch an zu heißen Tagen, und davon gibt es viele in Bagan, funktionieren Heißluftballons aus technischen Gründen nicht.

Wer das Gelände erkunden will, kann ein Fahrrad mieten. Auf der schnurgeraden Straße nach Bagan-Zentrum heißen die Restaurants „Winner“ und „Mother“, ein Guest House „New Wave“, und ein Café namens „Dollar“ gibt es natürlich auch. Auf Deutsch verkündet eine Aufschrift selbstbewusst: „Besuchen Sie uns! Kennen Sie uns lernen! Sie werden nie enttäuscht!”

Man könnte stundenlang durch verlassene Ruinen streifen, doch auch der Trubel rund um die plumpe Stupa der Shwezigon-Pagode ist reizvoll. Alte Damen im Schatten rauchen grüne Zigaretten und verkaufen die Penguin-Taschenbuchausgabe von Orwells „Burmese Days“. Man weiß nicht, ob sie selbst je vom Aufstieg und Fall des fetten und intriganten Stellvertretenden Hilfs-Distriktchefs im Kyauktada-Bezirk gelesen haben: „U Po Kyin hatte alles getan, was ein Sterblicher tun konnte. Nun war es an der Zeit, sich auf die nächste Welt vorzubereiten, mit dem Bau von Pagoden zu beginnen. Aber unglücklicherweise gingen genau an diesem Punkt seine Pläne schief. U Po Kyin (...) wurde vom Schlage getroffen und starb. (...) Vielleicht ist seine Befürchtung Wirklichkeit geworden, und er ist in Form einer Ratte oder eines Frosches auf die Erde zurückgekehrt. Vielleicht wird er gerade in diesem Augenblick von einer Schlange verschlungen.“

Die Schwarzmarkt-Guides zischen einem Freundlichkeiten ins Ohr und spucken kleine rote Kuhfladen auf den Boden: von vielen Männern wird die indische Betelnuss geschätzt, die man mit Pfefferminzpaste und Tabakzusatz auf Betelpfefferblätter aufträgt. Diese unerfreuliche Kleindroge verfärbt Zungen und Zähne rot bis schwarz, wahrscheinlich macht sie auch Krebs. Schöner ist die weiße Farbe im Gesicht der Frauen: zerpulverte Tanakarinde, mit Wasser zu einem rauen Brei verrührt und in Streifen auf die Haut aufgetragen, ein kühlendes und irgendwie cooles Make-up, das gegen die Sonne schützt.

In einem Winkel der Shwezigon dreht sich ein Goldfelsen-Altar mit Schildern, grobmaschig vergittert. Da stehen die präsumptiven Wünsche der Besucher sicherheitshalber auch auf Englisch: „May you meet with those who love you“, „May you be free from five enemies“, „May you pass your examination” und “May you win in lottery”. Es handelt sich um eine Lotterie der Sehnsüchte: Durch das Maschengitter werfen die Leute Geldscheine nach dem Silbertopf unter dem jeweils gewünschten Schild. Mit mechanischem Klicken verneigen sich Kleinbuddhas aus Plastik vor den Geldwerfern. Wer trifft, wird selig.

Literatur

George Orwell, Tage in Burma, Diogenes Verlag 1982.

Inge Sargent, Mein Leben als Sao Thusandi, Prinzessin der Shan, Bastei Lübbe 2004.

Golden Burma oder Terra non grata? – eine Auseinandersetzung mit Argumenten gegen und für einen Tourismus nach Burma/Myanmar, „respect“, Institut für integrativen Tourismus und Entwicklung, Wien 2003. Infos unter: office@respect.at