New York 1998 – USA


Zwei Artikel aus „Die Presse“, 1998

Katz´s Delicatessen

Seit 110 Jahren ist das graubraune Gebäude auf der East Houston Street mit der berühmtesten Salami westlich von Pannonien eine Legende. Auch die meisten Europäer kennen das schmuddelige Zwanziger-Jahre-Interieur, und zwar von der Leinwand. An diesen Resopaltischen hat Meg Ryan in der Rolle der Sally ihrem Harry den berühmtesten Orgasmus der Filmgeschichte vorgespielt.

Doch die Nachfahren des ehrwürdigen William Katz tischen nicht nur Höhepunkte auf, sondern eine eigenständige Mixtur aus jüdisch-amerikanischer Hausmannskost: Lachs- oder Cream-Cheese-Bagel, Hotdog with Sauerkraut, Katz´s Knoblewurst. De Klassiker: das Pastrami- und das Corned Beef-Sandwich – Berge von rosa Fleisch quellen zwischen zwei Toaststückchen hervor, serviert mit einem Tellerchen aufgeschnittener Salzgurken. Am Tresen wird Dr. Brown´s Soda in Dosen verteilt. Die Geschichte dieses Süßgetränks reicht bis ins Jahr 1869 zurück – hergestellt in den Varianten Cream Soda, Black Cherry, Cel-Ray, Orange und Root Beer, Geschmäcker zwischen Hustensaft und Karamel.

Fred Austin, der wohlbeleibte Besitzer des Ladens, lässt sich gerne im T-Shirt neben seinen Promigästen fotografieren. Deshalb sind die Wände mit Riesenportraits übersät – der Chef mit Bürgermeister Giuliani, mit Björk, mit Tyson-Manager Don King. Und als Draufgabe bevölkert eine illustre Reihe von Ex- und zukünftigen amerikanischen Präsidenten die Wände: Jimmy Carter, Ronald Reagan, und Bill Clinton, dessen Dankesschreiben im Schaufenster prangt: „Dear Fred, thanks for the baseball cap. Food was great. Bill.“

Aber auch Katz´s Deli an der Lower Eastside hat klein angefangen: Ende des letzten Jahrhunderts als Imbiss in Ludlow Street – Nahversorger für tausende jüdische Emigranten, für die Herr Katz den Geschmack der Alten Welt in die Neue hinüber rettete. Seine Konservierungs- und Lagermethoden stammen aus dem Zeitalter vor dem Siegeszug der Tiefkühlhäuser: das Fleisch ist geräuchert, geselcht und in Essig eingelegt.

Wegen dem Metrobau auf Ludlow Street übersiedelte man zu Beginn dieses Jahrhunderts in die angrenzende East Houston Street, und dort ist Katz´s Deli bis heute ansässig. Doch erst der Slogan „Send a salami to your boy in the army“ hat den Laden über die Grenzen der Lower Eastside hinaus berühmt gemacht – während des Zweiten Weltkriegs versorgte der Besitzer seine drei Söhne in den Armed Forces mit Wurst aus Übersee.

Die Katz-Dynastie, bekennende Vertreter der fahnentreuen Fraktion des jüdischen Bürgertums der Ostküste, machte daraus ein amerikanisches Traumprojekt mit Zukunft: ob es Korea war, Vietnam, oder der erste Golfkrieg gegen Saddam – erlaubten die klimatischen Umstände während der amerikanischen Abenteuer keinen Aufbau einer regulären Kühlkette, hieß es „Katz´s feeds the troops“. Wer auch in Wien, Tel Aviv und Sydney nicht auf seine Original-Salami verzichten will, für den gibt es mittlerweile „Katz´s Shipping“: die koscheren Würste, die die Wand hinter der Theke zieren, werden an jeden Ort der Welt versandt.

So präsentiert sich der Pionier des Fast-food („die Grand Central Station der Delis“, nannte die Village Voice den Laden) im zweiten Jahrhundert seines Bestehens mit Stolz und Witz: an jener Ecke, wo wohl bereits tausende Besucher erfolglos die Toiletten vermutet haben, bleiben die Blicke an einem weißen Schild hängen: „You have just passed it.“ Weiter vorne balgen sich Kinder um den Tisch, an dem Bill Clinton seinen Lunch hatte: in Form von 2 Hot Dogs, 1 Pastrami Sandwich, Pommes Frites, Diet Ginger und einen koffeinfreien Kaffee. Ob der Präsident ein Vielfraß ist, oder ob da Hillary und Chelsea mitfraßen, das verschweigt diese Aufschrift.

Katz´s Delicatessen, 205 East Houston Street, Lower Eastside, New York.



Yonah Schimmel´s Knishery

Wem der hektische Betrieb der Lower Eastside bei Katz´s Delicatessen zu schrill ist, der findet zwei Blöcke nördlich auf der East Houston Street ein Café, in dem die Zeit stehengeblieben ist: Yonah Schimmel´s Knish Bakery aus dem Jahre 1910.

Vergilbte Zeitungsausschnitte an den Wänden, eine dreckige amerikanische Flagge und der Duft nach frischen Knishes – das sind gefüllte Krapfen, nach Belieben süß oder salzig. Die Füllung reicht von Kartoffel, Kasha, Pilzen und Spinat bis zu Apple Cheese, Cherry Cheese Heidelbeer und Schokolade. Frisch und heiß werden die Knishes jede halbe Stunde mit einem Lastenlift aus der Bäckerei im Kellergeschoß ins Café hinaufexpediert.

Die Nachfrage ist nicht überwältigend – deshalb hat Schimmel vor einigen Jahren eine weniger geschichtsträchtige, aber einträglichere Filiale in der Lexington Street in Midtown aus dem Boden gestampft. Dort gehen seine Knishes wie heiße Semmeln weg. „Das ist genau der Punkt“, erläutert der Chef melancholisch, „du bringst eher einen Australier oder einen russischen Touristen hier ins Village herunter, als einen der wohlhabenden Typen von Upper East.“ Seine Rechnung geht auf – auch weil uptown die Preise „slighty higher“ bemessen sind. Was die Filiale ebenfalls auszeichnet, das sind die hausgemachten Getränke: Eistee, Homemade Joghurt und Borschtsch. Der „Borsht“ aus Roten Rüben kommt in einem Achtelliterglas, eisgekühlt, schon verrührt mit Sauerrahm.

Doch die zeitlos-vergilbte Endzeitstimmung, die gibt es eben nur hier auf der Lower Eastside. Man liegt hier an der Grenze zum boomenden Chinatown und fürchtet die Ausbreitung des chinesischen Lebensraums. Wer irgendwann in den letzten fünfzig Jahren zu Geld gekommen ist, der hat den heruntergekommenen Stadtteil verlassen. Ein beträchtlicher Teil der jüdischen Bevölkerung lebt heute in Brooklyn. Die Nachbarschaft wird nun von den Taco- und Nacho-Buden der Hispanics dominiert, und für die ist die beste Zeit ist Samstag abends, wenn sie ihre junge Kundschaft aus dem überlappenden East-Village in sich aufnehmen.

Da ist Yonah Schimmel schon geschlossen. Nur einmal wöchentlich, Freitag nachmittags, kommt tagsüber Leben ins Viertel, und die Gäste stehen Schlange für die warmen Köstlichkeiten. Seit die Bäckerei im Let´s go America steht, leistet man sich sogar Acessoires für die Fans: diverse Topflappen mit Logo.

Für Schimmel´s Knishes kommen die Gäste mittlerweile tatsächlich aus Australien oder Russland. Nirgends ist der Teig so flauschig wie hier. Und nirgends sonst in New York gibt es die Wiener Kaffeehaus-Tradition so unorganisch, absurd und todesnah zu sehen. Das hat auch die Zigarettenfirma Benson & Hedges durchschaut: sie wirbt mit dem Konterfei des Inhabers und vermittelt so für ihr Produkt die zeitlose Würde eines ewig währenden Wertsystems: „Eat at Yonah Schimmel´s Knishery and say B&H sent you.“

Yonah Schimmel´s Knish Bakery, East Houston Street, Lower Eastside, New York.