Paris – Frankreich

„Der Standard“, 22. Juli 2005


„Fffff“ als Hauptspeise

Früher begaben sich echte Pariser nur widerwillig in die Gegend. Und auch unechte Pariser hatten wenig Grund, sie aufzusuchen. Weder wohnte Walter Benjamin jemals südlich der Place d´Italie noch Jim Morrison. Auch Simone de Beauvoir und ihr Freund ließen sich selten blicken, ganz zu schweigen von Stefan Zweig. Das 13. Arrondissement hatte den Ruf eines etwas vulgären Bezirks mit Sozialbauten, irgendwo rechts unten am Stadtplan zu finden.

Die Errichtung der neuen Nationalbibliothek, zunächst spöttisch TGB genannt („Très grande bibliothèque“), rückte das verwahrloste Seineufer ins Bewusstsein der Pariser. Vier achtzig Meter hohe Türme in Form aufgeklappter Bücher ragen in den Himmel, der Lesesaal öffnet zwanzig Meter unter dem Straßenniveau den Blick auf einen Baumgarten – während in den Obergeschossen die bürokratische Maschinerie einzog. Der Bau, eines von vierzehn „pharaonischen“ Großprojekten des alten Präsidenten, dem die Pariser den Spitznamen „Mitterramses“ verliehen, wurde nach seinem Tod in „Bibliothèque Mitterand“ umbenannt.

Am Fuße der zweitgrößten Bibliothek der Welt kreuzt ost-westlich die Rue Tolbiac. Diese Verbindungsstraße führt vom verwaschen-roten Underground-Konzertboot „Batofar“ durch ein Paris der Jahrhundertwende mit Mietshäusern und Eckcafés. Daran grenzt das „neue“ Paris, jene Akkumulation bemerkenswerter bis haarsträubender Wohn- und Bürobauten der letzten vier Jahrzehnte, die das Stadtbild der Außenbezirke prägt.

Die Hochhäuser von „Les Olympiades“, im westlichen Drittel der Tolbiac, wirken dagegen etwas einfältig – und tragen trotzdem Namen wie Grenoble, Sapporo oder Squaw Valley. Einwanderer aus Südostasien, teilweise ehemalige Boat People, leben in der 20.000-Menschen-Enklave mit unterirdischen Marktpassagen und pagodenartigen Pavillons. Das „goldene Dreieck“ um die Avenues Ivry und Choisy wird von über 40.000 Asiaten bewohnt. Hier findet man einen McDonald´s mit chinesischen Schriftzeichen am Eingang, und von Krabbelstube über Buchhandlung und DVD-Shop bis zum asiatischen Friseur alles, was eine Stadt in der Stadt ausmacht.

Chinatown hat eine lange Tradition: In den Zwanziger Jahren begründete Chou Enlai in der Rue Godefroy, die französische Fraktion der KP Chinas. Auch Ho Chi Minh, 1917 als Schiffsjunge namens Nguyen Sinh Cung eingewandert, debattierte in den Salons und schrieb für die Emigrantenzeitung „Le Paria“. In den Fünfziger Jahren flüchteten Massen von Chinesen vor Maos Kulturrevolution in das 13. Arrondissement, zwanzig Jahre danach kamen Emigranten aus Vietnam, Kambodscha und Laos.

Heute boomt der vitale Stadtteil. Kulinarische Hauptattraktion ist das „Pho“, nordvietnamesisches Nationalgericht, eine Reisnudelsuppe mit Einlage von Fleischbällchen („Pho Bo Vien“), Rohsteakscheiben und Innereien („Pho dac biet“), für die Franzosen auch „Soupe tonkinoise“. Denn über die korrekte Aussprache des Wortes PHO gehen die Meinungen auseinander. Einige meinen, man sage einfach „Fffff“, andere behaupten, es klinge wie die erste Hälfte des populärsten amerikanischen Schimpfworts. Deshalb nennen vietnamesische Spaßvögel in den USA, so ein Gerücht, ihre Restaurants auch gerne „Pho King“. Pho-Lokale sind erkennbar an den überquellenden Beilagentellern: Sojasprossen, Thaibasilikum, Koriander, frische Minze, Chilischoten, Zitronen, eingelegte Zwiebel und Hoisin-Sauce.

Die Trendscouts waren schon im Bezirk, Touristen begehen noch immer den Fehler, die vietnamesischen Sandwichs „scharf“ zu bestellen, und auch Promis geistern neuerdings durch die Szene. Cathérine Deneuve „kommt gerne“ in das einfachste und vielleicht spektakulärste Lokal: das PHO 14. Ab Mittag platzt das Lokal aus allen Nähten, und das wird wohl noch schlimmer, wenn eine neue Métrostation Chinatown noch näher ans Zentrum rückt – „Lange vor 2012 wird die Métro bei Olympiades ankommen“, so der Spruch, der auf die projektierten Pariser Olympischen Spiele Bezug nimmt. Zudem wird entlang des Périphérique eine neue Straßenbahn das Stadtbild beleben. Rund um die dazugehörigen Baustellen erhöht sich auffällig die Frequenz von Passanten mit gelben Plastiksäcken – ein roter Schriftzug mit der Aufschrift „Tang Frères“ über einer dunkelgelb aufgehenden Sonne.

„Tang Frères 1“ ist ein Supermarkt wie aus einem futuristischen Comic der Zwanziger Jahre. In einer ehemaligen SNCF-Lagerhalle versorgt sich die asiatische Community mit Wasabi und Orangenbäumen, Jasmintee und Grünen Drachenfrüchten, frischem Red Snapper und tiefgekühltem Dim Sum. In der Hinterhalle wird Großhandel betrieben, Restaurantbesitzer stocken ihre Vorräte auf. Sonntags, wenn andere Geschäfte geschlossen sind, verwandelt sich „Tang Frères 1“ (das Flagschiff von 13 Tang-Niederlassungen) in ein Tollhaus. Franzosen überrennen den größten asiatischen Supermarkt westlich von China: für die Traditionellen unter ihnen gibt es sogar eine Abteilung mit Milchprodukten.

Die Geschwister Tang, Kantonesen aus Laos, symbolisieren die Erfolgsseite der asiatischen Diaspora – und keineswegs ein Boat-People-Schicksal wie viele ihrer Kunden: 1976 gründeten sie eine kleine Gesellschaft zum Import von Sojasaucen und Tsingtao-Bier. Mittlerweile verfügen die Tangs über ein Imperium aus Supermärkten und Restaurants. Nebenbei vertreten sie Aspirin und Danone am chinesischen Markt. Und allmählich dringen die rotgelben Plastiksäckchen von „Tang Frères“ in die bürgerlichen Arrondissements vor.


„PHO 14“ : 129, Avenue de Choisy, 75013 Paris, tgl. ab 9 Uhr.

„Tang Frères 1“ : 48, Avenue d´Ivry, 75013 Paris, tgl. außer Montag.

„Batofar“, gegenüber 11, Quai François Mauriac, 75013 Paris.