Peru – Regenwald

Universum 2009

Zu sechzehnt Lehm lecken

 

Gelegentlich kommt ein Boot vorbei, eines mit diesen dröhnenden Peki-Peki-Motoren, die an langen Stangen ins dunkelbraune Wasser des Flusses gelassen werden. Aber höchstens alle paar Stunden. Meist herrscht in der Mitte des Regenwalds völlige Ruhe. Und das ist gut – für die Grünflügelaras, die größte Papageienart der Welt. Denn sie begeben sich jeden Morgen freiwillig auf unbekanntes Terrain. Es sind mindestens zwanzig von ihnen, die auf Ästen der imposanten Bäume am Ufer des Las Piedras-Flusses hocken. Sie hopsen Ast für Ast nach unten – putzen sich, krächzen. Sie blitzen als rote, grüne, gelbe und blaue Sprenkel im dunkelgrünen Astwerk.

Allmählich sammeln sich dreißig, vierzig Aras, eine Riesenfamilie. Ganz langsam wagen sie sich vor, einer nach dem anderen. Er wirkt wie ungeplant, aber der Bewegungsablauf hat ein Ziel: irgendwann landet der erste von ihnen auf der feuchten Tonerde und pickt mit dem Schnabel in den Lehm. „Das clay lick flößt ihnen Respekt ein“, flüstert der Wissenschaftler im kleinen Verschlag auf der anderen Seite des Flusses, von dem aus er mit Fernglas, Teleskop und Kamera die Vorgänge beobachtet und minutiös notiert, „denn sie müssen da auf einem ungewohnten Untergrund landen.“

Alan Lee von der Universität Manchester untersucht, verdeckt von einer Plastikplane, wieso die Aras – und andere Papagei-Arten – teilweise beträchtliche Mühen auf sich nehmen und Risiken eingehen, um täglich vom Lehm zu essen, den ihnen die Natur anbietet. Sind es die Salze und Mineralien? Und welche Funktion hat dieser „clay lick“, auf Deutsch Lehmlecke oder Lehmgrube, in der Aufzucht der Jungen, die mit ihm gefüttert werden?

 

Ein paar Kilometer weiter, tief im Regenwald, gibt es noch eine Lehmgrube, eine von hunderten in Peru, Brasilien und Kolumbien. An ihr bedienen sich vorwiegend Säugetiere. Dort stehen Alans Kamerafallen. An guten Tagen fangen sie Bilder von Tapiren und Wildschweinen ein, an noch besseren lichten sie die seltenen Großkatzen ab, Ozelots, Jaguare und Pumas. Aber das findet hinter den hohen, dichten Bäumen statt. Die Schicht, die Alan Lee heute führt, beobachtet ausschließlich die Lehmlecke am Fluss.

Die Sonne knallt auf die Plastikplane. Im Beobachtungsverschlag rinnt Alan und seinen Mitarbeitern der Schweiß von der Stirn. Die Arbeit verlangt ihnen einiges ab: der Beobachtungszeitraum beträgt fünf Stunden. „Wir müssen leise sprechen“, sagt Alan, „die Aras da drüben wissen ja von uns. Sie halten uns zwar für keine unmittelbare Gefahr, aber natürlich stört sie unsere Anwesenheit.“ Alle fünf Minuten gibt es eine Zählung. Gerade sind vierzehn Grünflügelaras an der Lehmgrube. Oder sind es schon sechzehn? Sie picken und stupsen einander, tauschen Positionen aus. Vor allem aber bohren sie ihre Schnäbel in den Untergrund. Es scheint ihnen nicht nur ein Bedürfnis zu sein, sondern eine echte Leidenschaft, den Lehm zu fressen.

Plötzlich ein bestürztes Krächzen aus vielen Kehlen – die Gruppe flattert quer durcheinander, nach oben, flüchtet auf die umliegenden Äste. „Was hat sie nur gestört?“, grübelt Alan, sucht mit seinem Fernglas die Gegend ab und findet bald die Antwort. „Dort drüben ist ein kleiner Geier gelandet. Ein Jungtier. Im Prinzip kann der den Aras überhaupt nichts anhaben, er ist ja winzig. Aber die Aras verlassen sich nicht auf die Größe, die könnte ja täuschen. Sie erkennen die Form des Jagdvogels. Wer weiß, wozu ein solcher fähig ist.“

 

Alan Lee ist in der Erforschung eines der großen Rätsel des peruanischen Regenwalds auf Hilfe des Reiseveranstalters „Biosphere Expeditions“ angewiesen. Ohne die freiwilligen Mitarbeiter, die nach einem zweitägigen Crashkurs fast schon wie Profis jene Daten sammeln, die seiner Arbeit zugute kommen werden, wäre er verloren. Sie mussten einiges auf sich nehmen, um die abgelegene Lodge in der Mitte des Regenwalds überhaupt zu erreichen.

Von Puerto Maldonado, dem peruanischen Eingangstor zum Amazonas, Hauptstadt der Provinz Madre de Dios, ging es per Boot über zehn Stunden flussaufwärts. Belohnung für die Strapazen: Sichtungen von mehr als 600 Vogelarten und über 1250 Schmetterlingsarten, von den faul wirkenden Kaimanen am Ufer und den Schildkröten mit einem orangefarbenen Schmetterling am Panzer, der ihre Körperflüssigkeiten ableckt, von einer wilden Primärnatur, wie sie nur noch an wenigen Orten dieser Welt wuchert und blüht.

Immer öfter tauschen umweltbewusste Menschen – die Bankerin aus Heidelberg, die Innenarchitektin aus Nebraska, der schottische Turnusarzt oder der französische Aquariumsdirektor – ihre Jahresferien, die sie einst in Strandressorts oder auf Rucksacktouren verbrachten, gegen die kostenpflichtige Freiwilligenmitarbeit bei sinnvollen und wissenschaftlich fundierten Forschungsprojekten, die Veranstalter wie eben „Biosphere“ anbieten. Mit Peki-Peki-Booten, per Land Rover oder einfach in Gummistiefeln durchstreifen sie Gebiete, in denen die letzten Großkatzen und andere gefährdete Spezies leben. Ihre Mitarbeit liefert Daten für groß angelegte Presence/Absence-Studien und sie selbst liefern ihren persönlichen Beitrag zum Schutz der Artenvielfalt.

Eine Expedition wie diese, das bedeutet Neuinterpretation von Urlaub – also nicht unbedingt, sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen und Paulo Coelho ein paar Dollar reicher zu machen. Denn das Leben in der „Las Piedras Biodiversity Station“ wirkt auf den ersten Blick recht karg: ein winziger Generator sorgt für eine fahl beleuchtete Küche, sonst nur Kerzen und Taschenlampen; geschlafen wird in offenen 2-Bett-Kammern unter dem Moskitonetz; drei Gemeinschaftsduschen und drei Toiletten komplettieren die Luxusabteilung, und Pool gibt es auch keines.

Dafür liefert die Wildnis um die Lodge Bonuserlebnisse besonderer Art: eine Ameisenbärin taucht plötzlich im Unterholz auf, ihr Baby auf dem Rücken tragend; im Hintergrund, das Klappern der Kokosnüsse, die von einer Herde Weißlippen-Pekaris aufgeknackt werden; am Flussufer trabt eine Herde Cabivareas, Wasserschweine, dahin; oder es fletschen, plötzlich, irgendwo da oben Affen die Zähne. Manchmal sind es Schwarze Klammeraffen, die es in dieser Region noch gibt, an anderen Orten wurden sie von illegalen Holzfällern erschossen und kamen nie wieder. Über alldem zwitschern und schreien die Vögel des Regenwalds so laut, dass es manchmal klingen mag wie in einer überdimensionalen Spielhalle in Las Vegas.

 

Natürlich steht der Freiwillige – von dem keine biologischen Vorkenntnisse verlangt werden – dem Wunder Natur zunächst halb blind und halb taub gegenüber. Augen und Ohren müssen geöffnet und geschärft werden, und das geht nur mit Geduld und letztlich Erfahrung. Alan Lee erkennt Vögel am Zischen und Flattern, er riecht den feinen Duft der Wildschweine und auch der geschulte Blick für die Pfotenspuren des Ozelots fehlt ihm nicht.

Für Neuankömmlinge ist der Dschungel indes ein Kulturschock. Doch schon am zweiten Tag hat man sich mit den lokalen Gegebenheiten vertraut gemacht und hilft mit, Wege zu präparieren, Spurenfallen zu legen. Der Umgang mit Machete (Vorsicht, der eigene Unterschenkel ist näher, als man glaubt) und Schaufel ist hier von großer Bedeutung.

Wer die Augen öffnet, dem begegnet das Wunder der Natur auf ganz unprätentiöse Weise: riesige Gemeinschaftsnetze von Spinnen, abgestorbene Termitenbauten und hier und da am Wegrand ein kleiner, gelber Frosch. Für die Totenkopfäffchen hoch oben in den Zweigen ist das Leben leichter als jenes der Klammeraffen, denn auf sie wird selten geschossen. Sie haben einfach nicht genug Fleisch auf den Knochen, um ein gutes Mahl darzustellen. Von Zeit zu Zeit kann es auch geschehen, dass man einen Nachtaffen aufweckt, der entsetzt auf einen anderen Baum flüchtet.

Eine der Problematiken der Gegend um die „Las Piedras Biodiversity Station“ besteht darin, dass sie nicht in einem Nationalpark liegt. Anders als jene für Touristen zugänglicheren Stellen am Tambopata-Fluss, die zu den Aushängeschildern der peruanischen Tourismus gehören, ist der Lebensraum hier höchstens durch Gesetze geschützt, die kaum zu kontrollieren sind. Immer öfter vergibt die Regierung Kahlschlagrechte – Präsident Alan Garcia steht wieder einmal unter Erfolgszwang – an den einen oder anderen Konzern. Die Situation wird sich verschärfen, wenn demnächst die lang ersehnte „Carretera Interoceánica“ fertig gestellt sein wird, eine asphaltierte Verbindung von Atlantik mit Pazifik, die einen großen Schritt für Brasilien, Bolivien und Peru bedeutet.

Die transkontinentale Straßenverbindung soll nicht nur Brasiliens Wirtschaft – unter anderem Exporte nach China – ankurbeln, auch Peru will profitieren. Die Bewohner der Provinz Madre de Dios, heute bereits Boomland, setzen großen Hoffnungen auf den Aufschwung, titeln doch die Magazine mit Stories über Möglichkeiten Perus, aus der Weltwirtschaftskrise als Sieger hervorzugehen. Der ökologisch bedenkliche Handel mit Mahagonibäumen floriert immer, und bei Holz weiß ja meistens keiner, wo es genau herkommt. Die neue Straße eröffnet da, wie sich auf brasilianischer Seite bereits gezeigt hat, gute Möglichkeiten: der Zugang in die Wildnis ist gesichert.

Die Interoceánica wird nicht nur das Lebensgebiet der letzten unkontaktierten Indiostämme in zwei Teile zerschneiden. Die Erfahrung zeigt, dass der illegale oder halblegale Holzschlag entlang erschlossener Straßen ebenso ungehemmt zunimmt wie die illegale Jagd. Und im Zuge der Lebensmittelkrise liegt es den Regierungen nahe, leichthändig neue Anbauflächen für Soja zu genehmigen: Brasilien hat auch diesen Weg beschritten. Der Regenwald wird an den betreffenden Stellen, wie der Fachbegriff lautet, „weißgewaschen“, das heißt, die Primärvegetation wird ein für allemal vernichtet. Solche Praktiken bringen gerade die kaum berührte Region am Las Piedras-Fluss mit ihrem ungesicherten Öko-Status in eine prekäre Situation.

 

Noch ist der Kahlschlag unvorstellbar. Noch fliegen die Grünflügelaras zu ihrer angestammten Lehmlecke, und wenn sie ein Peki-Peki-Motor oder ein bedrohlicher Vogel verscheucht, kommen sie in der nächsten halbe Stunde zurück. Alan Lee hofft, dass auch seine Studie zu einem Umdenken der Politik beitragen kann. „Über clay licks ist noch nicht viel publiziert worden“, meint er, „und es wäre fatal, wenn diese einzigartigen Orte in Gefahr gerieten.“ Was Alans Freiwilligen im Beobachtungshäuschen klar ist, und was sie, zurück in ihren Heimatländern, dazu bringen wird, die Kunde von den letzten Erlebnissen in intakten Regenwäldern in die Welt zu tragen, die heute noch besuchbar sind: Bewusstseinsbildung muss im Kleinen beginnen, mit feuchter Stirn und durchgeschwitzten Unterhosen.

„Zeit für behaviour“, ordnet Alan an: er meint die Verhaltensuntersuchung an Einzeltieren. Die Freiwilligen wählen ein beliebiges Ara-Individuum und beobachten es sechzig Sekunden lang. „Resting ... now preening. Moving. Preening again. Scratching.“ Auf den Datenbögen wird fleißig angekreuzt. Was daraus entsteht? „The Tambopata Macaw Project – Parrot Geophagy Research“ ist der Arbeitstitel seiner Studie. Dabei bestimmt Lee den Stellenwert der Lehmvorräte für die Aras ebenso wie ihre Wechselwirkung mit deren Populationsdynamiken. Der erste Schritt besteht in der Bewusstseinsbildung – Fernziel soll die Entwicklung von Strategien sein, die zur Erhaltung dieses einmaligen Habitats beitragen, das im Amazonas viel weiter verbreitet ist als früher angenommen.

Und als guter Wissenschaftler, der wissen will, was seinen Aras denn so schmeckt, hat Alan den Lehm selbstverständlich eines Tages persönlich gekostet. „Salzig hab ich es nicht gefunden. Von der Substanz her ist es etwa so wie Schokolade, aber es ist nicht süß. Eigentlich war es okay“, sagt er, lächelt, und fügt hinzu: „Aber man muss sowas natürlich mögen.“