São Paulo

"Die Presse" 2008

Das Shopping Center ist der Strand

 

São Paulo und sein Hinterland – eine neue Destination mit Party, Architektur und Regenwald.

 

„Rio de Janeiro gegen São Paulo, das ist, als würde man eine Gucci-Handtasche mit einem Gummirucksack aus dem China-Shop vergleichen.” Solche Aussagen hört man oft. Deshalb fahren ja letztlich immer alle nach Rio und lassen São Paulo links liegen – doch es ist höchste Zeit, die chronisch unterschätzte Megastadt mit ihrem Hinterland zu entdecken, die zunehmend in den Blickpunkt gerät. Nicht nur aufgrund ihres internationalen Events – der Biennale – sondern, weil eine neue Prosperität zumindest eine Beruhigungsphase der sozialen Situation der Metropole einzuläuten scheint.

Die 28. Biennale wird ab Oktober 2008 die Weltoffenheit São Paulos wieder bekräftigen, immerhin steht die zweitgrößte Schau ihrer Art wie nichts anderes für Modernisierung und Föderalisierung und bringt kunst- und medieninteressiertes Publikum in die Region. Daneben gehen die unverrückbaren Traditionen noch lange nicht unter. Auf der Pferderennbahn „Jockey Clube de São Paulo” geht es ähnlich zu wie vor dreißig Jahren, blasse Damen mit komplizierten Hüten reichen einander im VIP-Club Champagnergläser. Doch die Lifestyle-Szene, den meisten Brasilianer nur aus Promimagazinen und den Telenovelas des Globo Rede (drittgrößtes TV-Netzwerks der Welt) bekannt, durchweht der frische Wind der Durchmischung.

 

Keiner kann abstreiten, dass São Paulo, reichster Finanzplatz Lateinamerikas, auch arm und chaotisch ist. Schon der Weg vom Flughafen in die Stadt offenbart sich das Zerrbild – Stau auf den vielspurigen Autobahnen, graue Vorstädte mit Industrieruinen, dazu der garantiert fischfreie, stinkende Kanalfluss Tieté. Doch die Innenstadt, rund um „República“, mit ihren Einkaufsstraßen in Richtung der großzügigen Wolkenkratzer-Fußgängerschlucht in Anhangabau, wird von immer mehr Paulistanos als Shopping- und Ausgehmeile benützt. Auf der Ostseite des Platzes sammeln sich die Yaki-Soba-Ständchen, an denen japanische Einwanderer das populärste Fast Food der Stadt erzeugen, sind die Straßen berstend voll, bis zum Mercado Municipal. Dessen Feinkoststände bieten ihre berühmten Mortadella-Sandwichs und Pastéis de Bacalhau an. Vor der eklektischen Fassade kann es durchaus sein, dass einem eine unkonventionelle Demonstration über den Weg läuft – zum Beispiel jene gegen den Selbstmord. Etwa hundert Menschen skandieren „Nein zum Su-i-zid!“ und tragen Transparente wie „Selbstmord macht die Situation nur schlimmer!“ Was wie eine Kunstaktion der Biennale aussieht, ist nur eine von tausenden Privatinitiativen einer jungen Zivilgesellschaft.

Zwischen República und Santa Catarina liegt ein „Rodízio“-Lokal neben dem anderen: eine Fleischorgie für wenig Geld. All you can eat, aus der Küche werden immer neue Spieße und Steaks herangetragen. In der Rua do Arouche feiert eine bunte Schwulen- und Transvestitenszene die Freitag- und Samstagabende vor den Lokalen. Natürlich wird Abstand gehalten zu denjenigen, die die Straße unfreiwillig bevölkern, die schmutzhaarigen Kinder in ihren allgegenwärtigen Decken, viele um den Lago Paissandu, die am Rand der Gesellschaft ihr Dasein fristen. Manche haben die Decken vor dem mondänen Café Brahma in der Avenida São João ausgebreitet und warten mit geschlossenen Augen auf das Ploppen von Münzen in ihren Plastikbechern.

 

Fernando, 39-jähriger Rechtsanwalt, trinkt auf der Esplanade der „Bar Brahma“ sein Bier der gleichnamigen Marke Brahma. Er wiegt den Kopf, wenn man ihn auf den Präsidenten Lula da Silva anspricht: „Wissen Sie, in Brasilien liegt vieles im Argen – das Gesundheitssystem, das Justizsystem, alles korrupt. Selbst wenn Jesus Christus morgen direkt zum Präsidenten gewählt würde, würde sich das nur langsam ändern.“ Trotzdem sei die Stadt – da ist er sich mit vielen Paulistanos einig – in letzter Zeit lebenswerter geworden. „Die Menschen haben die Energie dazu. Schließlich sind wir alle auf irgendeine Art Nachkommen von Einwanderern. Man kriegt uns nicht unter.“ Hier gäbe es eben keine Copacabana, kein schrilles High Life zwischen Zuckerhut und Favela. „Was ist der Strand von São Paulo? Das Shopping Center!“, zitiert er den bekannten Spruch, der die profanen Leidenschaften der Paulistanos auf den Punkt bringt.

Etwas verrücktere Leidenschaften pflegen die religiösen Sinnsuchenden. Zwei Häuserblocks von der „Bar Brahma“: Hauptsitz einer protestantischen Missionskirche mit US-Wurzeln – für jedes Publikum offen, tägliche Gottesdienste. Im Saal der „Igreja Internacional da Graça de Deus”, herrscht suggestiv aufgeheizte Stimmung, eine Band spielt brasilianische Jesus-Songs, alle heben die Arme: „Ich bin frei, bin frei, Christus hat mich befreit!“ Betreiber des Unternehmens ist der charismatische Romildo Ribeiro Soares (TV-Name “Missionário R.R. Soares”), der Chef persönlich predigt in den Musikpausen. Wem der Sitz zu ungemütlich oder die Nachbarin zu weihevoll wird, der kann das Spektakel auch live daheim auf dem Sender RIT (Rede Internacional de Televisão) betrachten, der sich im Besitz der Religionsgemeinschaft befindet.

Prediger wie Soares machen der Kirche Mitglieder abspenstig – 15% der Brasilianer sind mittlerweile deklarierte Neu-Protestanten, die Sympathisanten-Dunkelziffer liegt höher. In der Sektenmetropole gibt es auch wüstere Strömungen wie das „Deus é Amor“ des Wunderheilers Miranda, der in seinem Riesentempel hinter kugelsicherer Scheibe predigt und dem die Geheilten Krücken und Rollstühle zuwerfen. „Erschreckend, die Primitivität dieser TV-Pfingstler“, sagt Rechtsanwalt Fernando, „ich bin Agnostiker, aber wenn ich das sehe, fühle ich mich wieder sehr katholisch.“

 

Die Shopping Centers fädeln sich an der Avenida Paulista auf, man würde die Avenida mit dem Charme einer gigantomanischen Hochhauszeile gerne Prunkstraße nennen, aber zwischen TV-Stationen und Banken herrscht Wall-Street-Atmosphäre. Die Mieten an der Paulista sind die höchsten der Stadt, nördlich schließen Wohngegenden an wie Higienópolis mit seiner großen jüdischen Gemeinde, die Mittelklassegegend Perdizes oder Vila Madalena mit seinen bunten Restaurants. Im Ausgeh- und Studentenviertel werden die urbanen Trends gesetzt und das Publikum spiegelt Brasilien: gemischt. Nebenbei ganz selbstverständlich die kleinen vergitterten Parkplätze. Statt grünen Vorgärten steht vor dem Küchenfenster das Privatauto.

Bei der Metrostation Liberdade taucht man in eine fremde Welt ein: die größte japanische Kolonie außerhalb von Japan produziert die besten Sobanudeln mit Piri-Piri. Das Japanviertel lebt von seinem Emblem, der roten, klobigen, an die schönsten Stilverirrungen der Sechziger Jahre mahnenden Straßenbeleuchtung. Die Community betreibt ebenso ihre eigene Wochenzeitung, das „Jornal Nippo-Brasil“, wie luso-japanische Sambaschulen. Mittendrin ein Tupfer brasilianisches São Paulo: eine Speisehalle mit einer 200-Menschen-Schlange: die Mahlzeit kostet nur einen Real, etwa 40 Cent, das kann sich jeder leisten.

 

80 Kilometer beträgt die Distanz zum Meer – bei der Hafenstadt Santos befinden sich die Stadtstrände. Die große Naturattraktion ist jedoch die „Serra do Mar“, eine Bergkette parallel zur Küste, die im Süden vom Bundesstaat São Paulo in den Nachbarstaat Paraná übergeht. Eine Flugstunde entfernt, kann man wählen zwischen Bergen, Küste und einer außergewöhnlichen Modellstadt.

Curitiba, bunte Hochhauswüste, wird bei näherer Betrachtung interessant. Die Stadt gilt als Lehrbeispiel für architektonisch-raumplanerische Innovation – hier gab es die erste Fußgängerzone des Landes, hier legt man Wert auf Lebensqualität. Die UNESCO will sogar neuerdings Curitibas Masterplan in Afghanistan für den Wiederaufbau zerstörter Städte verwenden. Besonders auffällig ist die Eleganz, mit der sich die zweigelenkigen Langbusse („ônibus biarticulado“) wie Tausendfüßler durch den Verkehr winden, auf 27 Metern Länge Bus können 270 Passagiere mitfahren: viele sprechen von der oberirdischen Metro Curitibas.

Lebensqualität ist nicht unbedingt ein touristischer Renner. Es heißt, das Beste an Curitiba sei eben doch die Serra dahinter, mit ihren weitläufigen Beständen an Urvegetation. Tapire, Ozelots, auch Pumas und vermutlich noch einige Jaguare leben im Dschungel zwischen Curitiba und der Küstenstadt Paranaguá. Im Herzen des Regenwalds etabliert sich gerade eine neue Art von Tourismus, nachhaltige Ansätze wie jener von „Biosphere Expeditions“, deren Wissenschaftler in einem Studienprojekt Lebensbedingungen des vom Aussterben bedrohten Jaguars vor Ort erforschen. Zweimal im Jahr finden Expeditionen statt, bei denen Interessierte mithelfen, unter Leitung von Spezialisten das Terrain zu erkunden und Habitate der großen Katzen zu identifizieren – inklusive Zeltschlafplatz und Fußmärsche mit Flussquerungen durch die wilde Landschaft einer uralten Welt.

 

 

 

Bar Brahma, www.barbrahmasp.com, Avenida São João 677 (Ecke Avenida Ipiranga), Metrostation República.

Mercado Muicipal Paulistano, www.mercadomunicipal.com.br, Rua da Cantareira 306, Metrostation São Bento.

Concomínio Conjunto Nacional, www.ccn.com.br, Avendia Paulista 2073, Metrostation Consolação.

Jockey Clube de São Paulo, www.jockeysp.com.br, Avenida Lineu de Paula Machado 1263, Zona Sul, nahe der Cidade Universitária, ab 18 Uhr, Sa/So ab 15.45, Eintritt frei.

Regenwald-Expeditionen Serra do Mar: Der Veranstalter „Biosphere Expeditions“ ist eine gemeinnützige Organisation und betreut Naturschutzprojekte unter Führung von Wissenschaftlern und Einbindung von Laien. www.biosphere-expeditions.org und +49 7127 980242. Expeditionen nach Brasilien, in den Regenwald ins Gebiet von Curitiba, werden zweimal jährlich angeboten.