Rosa Blüten im Beton

Singapur ist Asiens grünste Stadt. Zuerst waren da die Kampagnen – heute soll jedes Haus überwuchert werden. Politik ist unaufhaltsam.

Manche mögen Singapur nicht. Der Schriftsteller Christian Kracht hat vor einigen Jahren in der „Zeit“ eine virtuos geschriebene Vernichtung des Stadtstaats publiziert. „Genauso hätte ich tagelang in einer Einkaufspassage in Göttingen herumlungern können“, bilanziert er. Kracht, Feind der „rigiden Politik, konservativen Moral und reaktionären Ästhetik“, brach seinen Besuch frühzeitig ab und flüchtete zum Flughafen.
Man kann seine Gefühle nachvollziehen, wenn man die Orchard Street hinaufspaziert, wo sich eine Shoppingmall an die nächste reiht. Da bleibt wirklich nicht viel vom alten Asien. Dieses Land, 5,5 Millionen Einwohner, Republik und Metropole zugleich, trägt jedoch mehr in sich als das Konzept Einkaufspassage. Je länger man durch Singapur spaziert, desto klarer kriegt das Bild des geistlosen Finanzzentrums – allerdings ebenso das staatlich propagierte Bild der glücklichen Welt – den einen oder anderen Riss. Und man könnte sagen, aus den meisten dieser Risse wachsen Pflanzen.

Anpflanztag in der tropischen Oase. Lee Kuan Yew (1923-2015) steuerte 31 Jahre lang die einstige britische Kolonie, die zunächst selbst nicht wusste, ob sie lebensfähig war. Kürzlich ist der Premierminister, danach Senior Minister und Minister Mentor und letztlich bis zu seinem Ende absoluter Lenker Singapurs, gestorben. Dieser Mann, unter dessen direktiver, undemokratischer Politik Chinesen, Malaien und Inder niemals aufeinander losgingen, war bei vielen Einwohnern beliebt, bei den meisten respektiert. Barack Obama bezeichnete ihn anlässlich seines Ablebens als „Giganten der Geschichte“, und niemand kein Trauergast beklagte den Demokratiemangel des Systems.
Eines steht fest, der Vater des modernen Singapur war Visionär und Gärtner. In diesen Eigenschaften ließ er überall wo möglich, Bäume pflanzen, sah er doch den Preis für die Industrialisierung seines Kleinstaats, die Betonwüsten. Schon am 16. Juni 1963 pflanzte er in einem Park einen Mempat-Tree (Cratoxylum formosum, wächst imposant, trägt rosa Blüten) – in der Folge ließ er sich vierzig Jahre lang am liebsten mit Schaufel und Gießkanne ablichten. Unter anderem dafür führte Lee Kuan Yew 1971 den jährlichen „Planting Day“ ein, an dem jeder Staatsbürger zur Baumpflanzung schreiten sollte: ein utopisches Singapur als Oase, „clean and green“. Und so geschah es.

Dracula fliegt. Man darf bei aller Freude am Gärtnern jedoch nicht vergessen, dass 95% des Regenwalds Singapurs vernichtet worden waren, einst von den Kautschukfarmen, gegenwärtig durch den Quadratmeterpreis in der City. 1930 wurde der letzte Tiger erlegt, heute sind nützliche Spinnenarten in Gefahr. Biologen beklagen auch in den Schutzgebieten eine fortschreitende Abnahme der Biodiversität.
Das Bukit-Timah-Reservat, seit 1883 ein Waldschutzgebiet, ungefähr zwölf Kilometer vom Zentrum, dient zwar heute der Naherholung, hier findet man jedoch auch den einzigen primären Regenwald des Landes mit fast 1.000 Pflanzen- und 100 Tierarten. Nachts trifft man den unheimlichen Riesengleiter oder Colugo an, katzengroß und draculaähnlich, der mit seiner Flughaut bis zu hundert Meter weit fliegen kann – vom Baum zu Baum, bis zu Singapurs höchster Punkt, 163 Meter Seehöhe. Der große Bruder dieses Reservats, die Singapore Botanic Gardens mit ihrem spektakulären Orchideengarten, ist gar noch zwei Jahrzehnte älter, seit kurzem UNESCO Welterbe, und beherbergt 10.000 Spezies.
Der Ehrgeiz des regierenden Obergärtners zielte jedoch nicht auf Artenvielfalt, er dachte in erster Linie an die Menschen. Naja, und nebenbei noch an den Standortvorteil, den Innovation nun einmal bringt. Lee entwickelte den Ehrgeiz, den Finanzplatz Betondschungel in die grünste Metropole der Welt umzubauen. Zunächst durch Bepflanzungen von Häusern, durch Gärten in oberen Stockwerken, vor allem aber auch durch hängende Grünflächen, sogenannten Pflanzenwänden mit automatischer Zufuhr von Wasser und Düngemittel. Oberstes Gebot: Kein Wildwuchs, sondern kontrollierte Natur zur Steigerung der Lebensqualität.
85% der Singapurer sind im staatlichen HDB-Wohnungen (Housing Development Board) untergebracht, ein Gemeindebausystem mit Rassenquoten. Der soziale Wohnbau hält penibel den Bevölkerungsschlüssel ein, Chinesen drei Viertel, Malaien ein Siebtel und Inder ein Zwölftel. Der freie Immo-Markt, extrem teuer, ist Spielwiese für die oberen zehn Prozent. Durch den Mangel an privaten Eigentümern lässt sich eine Begrünungspolitik leichter durchführen. Für die Anlage eines vertikalen Gartens übernimmt der Staat die Hälfte der Kosten, wodurch die Aufträge der Großgärtnereien sich verhundertfachten.

Single-Treff vor den Containern. 18 Uhr, die Abenddämmerung fällt über den East Coast Park, der – wenn auch nur mit einem Ufer – Donauinsel der Singapurer. Er erstreckt sich von der Marina bis zum Changi Airport, neben dem nach Shanghai zweitgrößten Hafen der Welt (über 30 Millionen abgefertigte Standardcontainer pro Jahr). Gewaltige Öltanker fahren so nahe vorbei, dass sie den Joggern förmlich an den Köpfen kleben. Die meisten Schiffe müssen zwischendurch den Anker werfen. Der Hafen macht seinen Profit nicht nur durch Beladungs- und Lösch-, sondern auch durch Stehzeiten – es herrscht chronischer Stau.
Den Parkbesuchern scheinen die Schiffe gar nicht aufzufallen. Ein Grüppchen hat sich rund um einen der Barbecue-Plätze versammelt. Sie werfen sich einen Ball zu. Mit dem Ball geben sie Fragen weiter. Es sind vorwiegend Expats und Frauen, die Expats als Partner suchen (umgekehrt ist gerade niemand dabei).
„Heute ist kein guter Tag, ich glaube außerdem nicht, dass diese Typen alle Singles sind“, sagt Anna Ng, Sprachstudentin, 26. Woran sie das merkt? „Sie sind zu schlagfertig. Zu schnell. Ein Expat, der wirklich eine Frau sucht, ist in erster Linie ein bisschen verzweifelt“, fügt sie hinzu. „Vielleicht sollten sie diese Singletreffs an einen weniger sachlichen Ort verlegen.“ Für Romantik eignete sich ihrer Ansicht nach der Mount Faber Park und sein gleichnamiger Hügel mit seiner Aussicht auf Central, an dessen Fuß die Seilbahn auf die Insel Sentosa losfährt. Oder der Statuenpark namens Haw Par Villa, verfallen und morbid, voll von chinesischen Mythen. Früher hieß er Tiger Balm Park, weil er vom Erfinder der Verkühlungssalbe gestiftet wurde.

Wachstum heißt Inselraub. Das moderne Singapur hat sein Staatsgebiet inzwischen um 20% vergrößert – via Land Reclamation, aufwändigen Aufschüttungsprogrammen mit Dutzenden Millionen Tonnen Sand, um dem Meer Land abzutrotzen. Oft sind die Importe illegal, so manche unbewohnte Insel Indonesiens ist in den letzten beiden Jahrzehnten einfach verschwunden. Wo der Sand von Fluss- und Meeresstränden geraubt wird, folgt unweigerlich eine Störung des biologischen Gleichgewichts. Malaysia erließ sein Ausfuhrverbot für Sand vor knapp zwanzig Jahren. Indonesien zog 2007 nach. Doch Korruption weicht Gesetze auf.
Die rundum positive Bilanz von Singapurs jüngstem Megaprojekt rechnet solche Kleinigkeiten nicht mit ein. Weil angesichts des Grün-Größenwahns ein Botanischer Garten nicht genügt, hat man auf reklamiertem Land neben der Marina im letzten Jahrzehnt einen zweiten, völlig irren angelegt: „Gardens by the bay“. Im Zentrum eines Lehrparks zwei gigantische Gewächshäuser, natürlich die größten der Welt, beide gekühlt. „Flower Dome“ zeigt Vegetation mit Olivenbäumen, „Cloud Forest“ jene von 1.-3.000 Meter Seehöhe, samt künstlicher Wolkenproduktion, einem noch künstlicheren Wasserfall, einem Alpengarten, ganz wie daheim. Draußen stehen bis zu 50 Meter hohe „Supertrees“. Es sind  vertikal bepflanzte Stahlgerüste, einige mit Brücken verbunden, finanziert von Banken. Man rechnet mit 5 Millionen Besuchern pro Jahr.
Dahinter thront das unbotanische Marina-Bay-Sands-Hotel mit dem berühmtesten Infinity-Pool der Welt. Nicht-Hotelgäste können sich per Aufzug auf eine Hochterrasse transportieren lassen, von der aus sie das Treiben der teurer Untergebrachten beobachten, abknipsen und in die sozialen Medien stellen dürfen.
Angenehmer – letztlich auch grüner – ist es dann doch auf einigen der mehr als 70 Inseln des Landes. Pulau Ubin im Nordosten wird als Mountain-Bike-Paradies propagiert, sie gilt als Radfahrinsel, ist als solche jedoch unbrauchbar, weil es immer viel zu heiß ist und Asiaten in ihrer Freizeit kaum Rad fahren. Doch hier kann man noch Spuren des „kampong“, des ländlichen Singapurs von anno dazumal entdecken, und unberührte Flora, wie sie auf Hochhäusern schwerlich wächst. An der südöstlichen Spitze Pulau Ubins liegt der Felsenstrand Chek Jawa mit Korallenriff und Feuchtgebiet. Er geriet einige Zeit ins Visier von Immobilienentwicklern, doch das Engagement von Freiwilligen und die Tatsache, dass er Ökotourismus anzieht, scheint ihn vor der Vernichtung zu bewahren. Die Politik hat ihren Blick darauf, im neuen Singapur hat Immobilien-Wachstum nicht mehr oberste Priorität, darauf ist Verlass. Man mag Christian Krachts Pauschalablehnung zustimmen oder nicht, „Ordnung, Sauberkeit und Disziplin sind die deprimierenden Grundpfeiler dieser Gesellschaft.“


1 Die Nachtsafari.
Weltberühmter Zoo mit modernem und wissenschaftlichem Zugang. Als Besonderheit gibt es die Nachtzoo-Safari, eine interessante Sache, man kommt den (wie in der Natur halt teilweise schlafenden) Tieren recht nahe; große Enttäuschung für den klassischen Touri, weil man ja nicht mit Blitz fotografieren darf. Man sieht 130 Arten, ein Drittel davon vom Aussterben bedroht. Tickets vorher im Internet sichern! Auch die nicht ganz so populäre River Safari soll empfehlenswert sein.
www.zoo.com.sg, 80 Mandai Lake Road, Singapur 729826.


2 Das Haus des Präsidenten.
Nach Lee Kuan Yews Tod entfaltete sich ein absurder Streit um sein Haus, das laut seinem letzten Wunsch abgerissen werden sollte, da er Personenkult hasste. Nun sieht es aus, als könnte es doch eine Gedenkstätte werden.
38 Oxley Road, Singapur 238629.

3 Das andere Grün.
Asiatische Städte sind nicht fußgängerfreundlich, und da macht Singapur keine Ausnahme. Die Ampeln springen viel zu früh auf rot. Den meisten ist das egal, sie legen einen Sprint ein. Aber für ältere Leute oder aus anderen Gründen Gebremste, die in Stress kommen, gibt es eine Lösung: Menschen mit Einschränkungen und alle, die 60+ sind, erhalten die sogenannte „Green Man +“-Karte, deren Barcode man an den Ampel-Druckknopf hält. (Sie gilt auch für women.) Damit verlängert sich die nächste Grünphase um bis zu 13 Sekunden.


4 Der Österreicher.
Er heißt Erich, kommt aus Niederösterreich und betreibt in Singapur einen Würstelstand. Zwar sind die Würste aus Deutschland – aufgrund der Importlogik, aber der Chef erklärt den Besuchern dafür, wieso der Muffin eine original österreichische Erfindung ist. Netter Kerl!
Erich´s Wuerstelstand, 5 Banda Street, Stall N.o 5, Singapur.
5 Shopping.
Mustafa-Centre. In der Shopping-Stadt ist das jener Ort, wo Inder einkaufen – und alle anderen auch. Ein Shopping-Center wie früher, geradezu ein Warenhaus, und es führt natürlich „alles“. Gutes Kontrastprogramm zur Orchard Road et al.
www.mustafa.com.sg, 145 Syed Alwi Road, Singapur 207704

6 Anreise und Unterkunft.
Flug mit Singapore Airlines via Frankfurt (zwei Mal täglich) oder München (ein Mal täglich) und ab Juli auch via Düsseldorf (drei Mal wöchentlich). www.singaporeair.com
Hotel Jen Orchardgateway Singapore. Angenehmes, freundliches Designerhotel einer kleinen fernöstlichen Kette mitten im Shoppingbezirk.
www.hoteljen.com 277 Orchard Road, Singapur 238858

Die Reise wurde unterstützt von Sanctuary Retreats, Singapore Airlines und Windrose Österreich.