Xi´an

Süddeutsche Zeitung 2008

Clio Coddle im Wunderland

 

„Clio Coddle“: klingt wie eine hippe Modemarke, oder? Jedenfalls nach chinesischen Maßstäben. Wenn unter der Shop-Aufschrift noch ein grünes Krokodil mit nach oben gebogenem Schwanz prangt, dann steht fest: Es handelt sich um die lautmalerische Nachbildung des englischen Worts „crocodile“. Auch bei den Waren handelt es sich um Nachbildungen westlicher Originale. China, das Land der weltmeisterlichen und ungenierten Copycats, hat eine Menge dieser halb oder ganz offiziellen Kuriositäten zu bieten. Haben Sie etwa schon einmal in einem Shop namens „Arschkoerl“ ein feines Hemd gekauft?

Doch während die chinesischen Metropolen mittlerweile stark vereinheitlicht wirken –Shanghai mit der Demontage sämtlicher privater Ladenschilder und Beijing mit der Eliminierung der Wanderarbeiter aus dem Stadtbild liefern dafür gute Beispiele – brennt das echte, unolympische, aber zutiefst chinesische Feuer in Städten wie Xi´an. Auch gebildete Menschen fragen gelegentlich: Xi´an? Sian? Nur ein vages Gefühl? Selten bis nie gehört?

Doch, Sie müssen davon gehört haben, oder zumindest so tun als ob. Xi´an ist die Mitte des Reichs der Mitte, war einst größte Stadt der Welt und über tausend Jahre lang chinesische Hauptstadt. In China selbst polarisiert Xi´an: man liebt oder hasst die dekadente Lebensweise der Zentralchinesen und ihren charakteristischen Dialekt, den sie selbst als Hochsprache bezeichnen. Für Reisende ist Xi´an indes meist nur ein Sprungbrett zur größten Sehenswürdigkeit der Region: der Terrakotta-Armee. Neben Clio Coddles zeitgenössischen Einkaufswahnsinn, der die Nation prägt, seit 10 Prozent der Bevölkerung in relativem Wohlstand lebt, bietet Xi´an eine freundliche Topgraphie, in der manchmal das alte Asien aufblitzt: in den Hinterhöfen mit den schmalen Straßen, wo der Trubel von Garküchen, Mah-Jongg-Spielen und Kleingewerbe ineinander übergeht, als wäre die Stadtlandschaft eine überdimensionale Wohngemeinschaft. Gespielt wird lärmend und nicht zum reinen Vergnügen – es geht in China, sei es beim Mah-Jongg, sei es beim Schach, immer um Geld. Nur um die Ehre: der Gedanke wäre für Chinesen grotesk. Man ist ja kein Bettler.

 

Das Bettlertum unterliegt in Xi´an wenig Restriktionen, doch die meisten halten streng ihren beruflichen Zeitplan ein, als hätten sie Genehmigungen: immer um die gleiche Zeit die gleichen Schlafenden, die gleichen Spielenden, und die gleichen Bettelnden. Da ist die junge, hübsche Frau, die von ihren Beinen nicht getragen wird. Im Rollstuhl, geschoben von einem winzigen buckligen Männchen, das Mikrofon in der Hand, haucht sie bei jedem kleinen Geldschein, der in ihren Becher fällt, ein „Xie xie“ – ein Dankeschön. Ihre glockenhelle Stimme veranlasst viele Passanten, doppelt zu spenden, nur, damit sie das „Xie xie“ wieder hören. Ist die junge Frau bei Laune, zieht sie die Meute mit aktuellen Karaoke-Songs in Bann. Ihr Vorteil: Da sind immer sehr viele Chinesen, die einkaufen. Auch wenn wenige geben, irgendwer gibt immer.

Auf das gleiche Prinzip setzt der Krüppel vor dem Kaiyuan Shopping Mall, in der Nordstraße, der mit dem Kopf Ziegelsteine zweiteilt: ein Spektakel für Hunderte Neugierige. Andere haben kein Publikum, all die ganz normalen Bettler, die am Straßenrand neben ihrer Sammelbüchse schlafen, ihre Krankheitszertifikate neben sich ausgebreitet: zum Beispiel die Eltern des Kindes mit dem Wasserkopf, die das nuckelnde, kleine Ding in den Armen halten und für sich selbst sprechen lassen. Es hat hellweiße Augen, und die verdreht es manchmal. Eigentlich ist es zu groß, um im Arm gehalten zu werden. Doch es hat nie stehen gelernt – und wird nie stehen.

 

Manchen Städten fehlt das Zentrum – Xi´an kann man das keinesfalls vorwerfen: exakt in der Mitte der Innenstadt befindet sich der „Bell Tower“ oder Glockenturm. Der Glockenturm ist auch die Wurzel vier eleganter Hauptstraßen, benannt nach den Himmelsrichtungen: die Bei Dajie, Nan Dajie, Xi Dajie, Dong Dajie (Norden, Süden, Westen, Osten). Den ausschließlich unterirdisch erreichbaren Koloss, eigentlich weniger Turm als Pagode, umgibt kein Graben, kein reißender Fluss, aber doch etwas vergleichbares: ein Kreisverkehr, der 24 Stunden nicht ruht. Das Meisterbauwerk entstand erst im 14. Jahrhundert, als die politische Macht von Xi´an bereits Geschichte war. Doch der schauerliche Ton seiner Glocken – früher Signal für das Schließen der Stadttore, heute von Besuchern zu mieten – weht mit Überzeugungskraft in die Himmelsrichtungsstraßen: der tönende Mittelpunkt der Welt.

Zwischen dem Glockenturm und seinem Bruder, dem einen halben Kilometer westlich gelegene Trommelturm mit seiner Ausstellung alter Trommeln, die nicht geschlagen werden dürfen und doch oft geschlagen werden, belebt sich die Szene am Abend. Fotografen mit Polaroidkameras bieten ihre Dienste an, Kinder hüpfen über die Wasserfontänen im Park. Hinter dem Trommelturm beginnen die Gassen des Muslimischen Viertels: die chinesischen Moslems oder „Hui-Chinesen“ leben hier seit mehr als einem Jahrtausend, ungestört von religiösen Querelen.

Ihre Vorfahren waren zentralasiatische Händler entlang der Seidenstraße, heute floriert das Kleingewerbe samt Ständchen mit Tintenfisch- und Innereien-Spießen. Das muslimische Viertel hat auch einen Touristenmarkt: einer der wenigen Orte auf der Welt, in dem Besucher ganz automatisch ähnliche Preise wie Einheimische zahlen. Vielleicht macht diese Unaufdringlichkeit den Unterschied zu den geschäftsgierigen Städten an der Küste? Die Große Moschee aus dem 8. Jahrhundert, im Gassengewirr kaum zu finden, gibt ihrem Namen alle Ehre – fünf Höfe mit Pagoden, Schreinen und Minaretten, eine auf den ersten Blick absurde Mischung aus nahem und fernem Osten.

Nur etwa fünfhundert Jahre alt ist die größte, und ebenso unbekannte wie gigantische Sehenswürdigkeit der Stadt: die völlig intakte Stadtmauer von zwanzig Meter Höhe, die in einem 14 Kilometer langen Rechteck die Innenstadt Xi´ans mit ihrer Fläche von 99 Quadratkilometern umschließt, ein Bauwerk, wie es auf der ganzen Welt nirgendwo existiert. Wer beim Südtor nach oben geht, kann sich ein klappriges Fahrrad mieten, denn die Stadtmauer ist begeh- und befahrbar. Es empfiehlt sich, vor dem Geschäft eine Proberunde zu absolvieren, denn ansonsten könnte man – wie Ihr Berichterstatter – auf halbem Wege in die Verlegenheit kommen, das Rad selbst reparieren zu müssen. Eine Runde dauert etwa 100 Minuten und bietet unglaubliche Blicke über die Stadt … auch in Privatwohnungen, wo wie überall in China meistens gegessen wird. An mehreren Stellen der Mauer, bei den Pagoden, gibt es kleine Ausstellungen; eine davon zeigt Waffen. Die Bildtexte sind geprägt vom Blickwinkel des Landes der Stäbchen. Unter dem Sichwort „fork“ liest man da auf Englisch: „Die Gabel wurde vor langer Zeit in primitiven Gesellschaften erfunden und zu Beginn im Fischfang und bei der Jagd verwendet. Später entwickelte sie sich zu einer Kriegswaffe.“

Bei der Rundfahrt fällt auf, dass sich auch in Xi´an kein Markt für Dachterrassenimmobilien entwickelt hat. Der Blick von innen nach außen ist in Asien (vergitterte Fenster, Milchglasfenster) noch immer kein begehrenswerter. Der Gedanke, die hübschen Flachdächer zu nützen, kam einfach bisher noch niemandem: eine schöne Spielwiese für Investoren des 22. Jahrhunderts.

 

Qin Shihuangdi hat viel für China getan: die Nomaden aus dem Norden zurückgedrängt, beträchtliche Teile der Großen Mauer bauen lassen, eine einheitliche Zeichenschrift durchgesetzt. Und trotzdem ist der erste Kaiser Chinas seit 2400 Jahren so unbeliebt wie sonst nur Dschingis-Khan oder Tamerlan: er ließ in großem Stil Bücher verbrennen und Gelehrte ermorden. Das alles geschah zwar vor langer Zeit, ab dem Jahr 247 vor unserer Zeitrechnung, doch während in Europa tyrannische Feldherren oft verherrlicht werden, haben die chinesischen Historiker diesem Mann nie verziehen. Seine historische Bedeutung ist ungebrochen, die Dynastie der „Qin“ gab China bekanntlich den Namen, und neuerdings findet sich Qin Shihuangdi als Held in Actionfilmen und Computerspielen wieder: ein brutaler Bösewicht.

Unter Qin Shihuangdi wurde das Reich der Mitte erstmals geeint – seine Hauptstadt, Xianyang, lag ungefähr dort, wo heute der Internationale Flughafen liegt, nicht weit von den Muschelkalkbergen. Berühmt wurde die Region erst nach 1974, als chinesische Bauern auf die erste von Tausenden Terrakotta-Figuren stießen, lebensgroße Figuren als Grabbeigaben für den äußerst todesängstlichen Kaiser. Wie alles in China ist das Erlebnis „Terrakotta“ für Ausländer durchorganisiert – mit dem Nebeneffekt, dass jede Taxifahrt im Stadtgebiet Xi´ans zur Verhandlung werden kann, ob der Lenker einen vielleicht anstelle an den Zielort nicht doch lieber zu „Te Ua Kot Ta“ fahren solle – manche bieten sogar fremdenführerische Dienste an.

Doch die unterirdische Armee ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchaus zu erreichen. Im Norden der Stadtmauer befindet sich der ebenso imposante Bahnhof, wo sich die Abfahrtsstelle der Linie 306 befindet, die einen für umgerechnet einen knappen Euro in 75 Minuten und mit vielen Zwischenstationen zum Achten Weltwunder bringt. Es fahren fast nur Chinesen in diesem Bus – am Weg gelten die Thermalquellen von Huaqing als ebenso wichtige Sehenswürdigkeit.

„Te Ua Kot Ta“, das bedeutet eine überdachte Halle mit 14.000 Quadratmetern, und mehr als 2.000 der ausgegrabenen Kriegerfiguren in Reih und Glied. Weitere 6.000 sollen noch im Schutt liegen. Obwohl offizielle und selbsternannte Guides mit der Ankündigung, diese Vorgangsweise sei „necessary“, alle Besucher bestürmen, einen Führer ins Gelände mitzunehmen, könnte man davon abraten. Die eloquenten Guides spulen ihr Programm herunter, doch natürlich geben sie auf westliche Fragen vom Typus „Wie stark wurden die Figuren restauriert?“ keine Antwort, bzw geben sie eine andere: Sie erzählen, wie lange wie viele Personen mit der Restauration wie vieler Figuren beschäftigt waren. Das Ignorieren der Fragestellung ist weniger Anweisung der Regierung, sondern einfach Resultat einer für sie völlig unverständliche Frage. Angesichts der tollen Figuren wirkt die Frage nach archäologisch-historischer Wissenschaftlichkeit sinnlos.

Qin Shihuangdi würde sich wundern, könnte er den Trubel um seine steinernen Krieger sehen – und sich vermutlich grämen, denn sein eigenes Mausoleum zieht weniger Interesse auf sich. Er selbst wollte angesichts seines Todes mit seinem ältesten Sohn Frieden schließen und ihn zum Nachfolger bestimmen. Der Sohn war wegen Bücherverbrennungen und Gelehrtengenozid mit ihm in Streit und leistete Zwangsarbeit an der Großen Mauer. Das Joboffert erreichte ihn nie, ein anderer wurde Kaiser, die Qin-Dynastie ging unter.

 

Busreisen von Freiburg im Breisgau über die Seidenstraße nach Beijing, unter anderem über Xi´an: www.avantireisen.de, nächstes Projekt 2009 [nachfragen]. Gruppenreisen nach China: www.studiosus.com. Induividuelle Reisearrangements bei www.marcopolo-individuell.com mit Flug, Rundreise im eigenen Fahrzeug mit Fahrer, Übernachtung und Reiseleitung.