Zentralasien

Süddeutsche Zeitung 2008

Der Bus als Heimat

SEIDENSTRASSE. Eine Reisegruppe fährt per Bus in 70 Tagen zwar nicht um die Welt, aber immerhin von Freiburg im Breisgau bis nach Peking. Martin Amanshauser war zehn Tage mit dabei.

 

„Wenn du eine Geschichte über diese Fahrt schreibst“, sagt mir eine Mitreisende, „dann könnten die Melonen der rote Faden sein. In Griechenland aßen wir sie, im Iran gab es gute, ab Zentralasien wurden sie süßer. Hier in China, überall Melonen. Kennst du die Stadt Hami? Das Melonen-Weltzentrum!“ Das alles stimmt. Aber es ist nun schon das dritte Mal, dass mir Mitreisende roten Fäden für meine Geschichte empfehlen. Wollt ihr sie gleich selbst schreiben?, frage ich. Nein, frage ich natürlich nicht. Deute stattdessen ein dankbares Nicken an – und beiße in ein Stück Wassermelone, das mir die Mitreisende hinhält.

Ihr Vorschlag ist bedenkenswert, schließlich bin ich nur zehn Tage dabei, sie hingegen siebzig Tage oder 14.000 Kilometer, von Freiburg bis Peking, wo der große rote Reisebus der Marke Setra am Tag der Olympia-Eröffnung einfahren wird. „Hami ist die Mitte der Welt“, fügt meine Mitreisende hinzu, „zumindest am Melonensektor die Mitte des Reichs der Mitte. Melonen unterschiedlichster Sorten: süß, fruchtig, wässrig, mehlig. Wusstest du, dass sie spezielle Sorten züchten, die mehlig sind?“

Eines weiß ich: es sind 25 besondere Menschen – besonders verrückte Menschen? – die sich dem Busunternehmer Hans-Peter Christoph auf der Eurasien-Durchquerung angeschlossen haben: Ein früherer Frankreich-Korrespondent; ein jüngst pensionierter Wärter einer Strafanstalt; eine junge Krankenschwester, die Auszeit nimmt; eine 4-fache Mutter, die mit 60 das Leben genießen will. Zwischen 1. Juni und 8. August machen sie den Reisebus zu ihrer Heimat. Deutsches Radio und Lokalzeitungen berichten regelmäßig über die psychisch-physische Gewalttour vom Mittelmeer über die Türkei, den Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgistan, Kasachstan und, als wäre es ein Kinderspiel, quer durch ganz China: kein anderer Busveranstalter bietet eine solche Reise an.

 „Bis vor kurzem zweifelte ich“, erzählt Hans-Peter Christoph, der sich die riskante Fahrt selbst zum 50. Geburtstag schenkt, „ob nicht an irgendeiner Grenze einfach Schluss ist. Aber jetzt bin ich optimistisch. Wir haben das chinesische Kennzeichen auf der Frontscheibe, und wir fahren Peking entgegen.“ Der Busunternehmer hat einen Techniker aus dem Herzen der Firma dabei, Anatoli Reklin. Als die Busschnauze in einer türkischen Fahrbahnsenke plötzlich aufsaß, fuhr der Servicemann den Computer zur „Stardiagnose“ hoch. Reklin behielt in der höchsten Not eines Hupkonzerts die Nerven, senkte das Fahrzeug vorne ab, hob es hinten an und brachte es wieder zum Laufen.

 

„Und du berichtest als Österreicher von unserer Reise?“, fragte mich jemand skeptisch, als ich in Taschkent zustieg. Natürlich!, antwortete ich, und fügte hinzu, mir bliebe ja nichts anderes übrig, als als solcher zu berichten. Zunächst beschäftigte mich tatsächlich Zentralasien weniger als die Annäherung an süddeutsche Sprachformen (Alemannisch, Schwäbisch, Fränkisch), um „Seidenstraße“ verlässlich von „Seitenstraße“ unterscheiden zu können: in Usbekistan zwei zentrale Begriffe. Die anderen, Medrese, Moschee, Koranschule, gingen meinen Mitreisenden bereits so verwaschen-locker über die Lippen wie einem Gewerkschafter „Sozialdemokratie“. Die Gruppe, trotz fünf Wochen auf engem Raum nicht im Zerfleischungskampf verstrickt, war nach Buchara und Samarkand leicht erschöpft, besuchte Sehenswürdigkeiten mit einer Mischung aus Respekt und Resignation. Vor allem der Iran hatte ihnen was abverlangt. Am Ende zählten die Frauen vor der turkmenischen Grenze im Countdown runter, um sich bei Null den Schleier vom Kopf zu reißen.

Erstaunliches berichteten sie von Turkmenistan, der Staat, den „Turkmenbaschi“ bis zu seinem Tod (2006) diktatorisch regiert und sogar die Monatsnamen umbenannt hatte – den Januar nach sich selbst, den April nach seiner Mutter, den September nach seinem Buch. Als Nachfolger sei nun nicht etwa Turkmenbaschis Sohn an der Herrschaft, sondern Turkmenbaschis Zahnarzt. Der habe sowohl Aids als auch TBC verboten, beide Krankheiten dürfen seitdem nicht mehr praktiziert werden. Das Politische, fokussiert als anekdotische Erzählung, fast wie einst bei Marco Polo, schien mir letztlich höheren Unterhaltungs- und News-Wert als CNN zu haben.

 

Grenzstationen: zwei Stunden Kontrolle bei der Usbekistan-Ausreise sind Routine. Danach ein Kilometer Fußmarsch durch brütende Hitze im Niemandsland, oder, für Abenteuerlustige, eine Fahrt mit der Eselskutsche. Die kasachischen Grenzstationen wird keiner, der sie mit einem ausländischen 22-Tonnen-Bus überquert, je vergessen. Hans-Peter Christoph ahnt es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch die durchschnittliche Aufenthaltsdauer (vier Mal Kasachstangrenze) wird fünf Stunden betragen. Schwalben fliegen ungehindert durch die offenen Türen in die Zollhalle. Sie haben drin ein Nest und füttern ihre Kleinen mit Insekten, die sich an den Neonlampen versammeln. Die Baby-Schwalben werden rasch fett. Beim Anblick des Spektakels lachen die Beamten.

Meine Mitreisenden nehmen den Grenzmarathon gelassen („wir sind ja kein Kaffeekränzchen“), sitzen im Schatten, jammern wenig, steigen auf Befehl in den Bus ein und aus dem Bus aus. Nach fünf Wochen auf der Landstraße verhalten sich Deutsche allerdings zunehmend österreichisch. Sie sind nicht mehr völlig pünktlich, haben ein bisschen resigniert, handeln nicht ganz rational: irgendwie schade.

Zurück on the road entkommt dem einen oder anderen ein zufriedener Seufzer: „Wieder daheim!“ Nicht die Hotels sind ihnen zum Zuhause geworden, sondern der Bus. Der jedoch ebenso leidet wie sein Servicetechniker – Anatoli Reklin verzieht bei jedem Schlagloch das Gesicht: „Das tut mir körperlich weh!“ Draußen sind Zypressen zu sehen, das südliche Kasachstan ähnelt erstaunlicherweise der Toscana. Dann liest jemand nach: Es handelt sich um eine besondere Sorten Fichten.

Kirgisistan, Kirgistan oder Kirgisen? Die politisch konnotierte Debatte über den korrekten Namen der Kirgisischen Republik hält an, während sich die Gruppe teilt: die einen schlafen nach einer durchfahrenen Nacht aus, die anderen machen einen Abstecher zum See Yssyk Kul. Cholpon-Ata, ein ehemalig mondäner Badeort für die sowjetische Nomenklatura, bietet Sandstrände, Himbeerkuchen, Forellen und am Berghang ein spektakuläres Feld mit Felsmalereien („Petroglyphen“).

 

Endlich die letzte kasachische Grenze: 6-stündige Prozedur bei der Ausreise nach China. Das Reiseleiterteam wird in endlose Diskussionen verstrickt, im Kreis zwischen 4 oder 5 Stellen herumgeschickt, immer fehlen Dokumente, von denen man vorher noch nie hörte. Stundenlang schließt die Grenzstation vollständig, die Toilettenanlage sowieso: Angestelltenrechte oder Schikane? Mit Geld kommt Hans-Peter Christophs Team schließlich weiter: zuerst werden 122 zusätzliche Dollar gefordert, bei Erkennung des Zahlungswillens verdoppeln die Beamten auf 244.

In Xinjiang, die westlichste Provinz Chinas, Gebiet der Uiguren, die hier nominelle Autonomie genießen, muss alles besser werden: „Sprich bitte nie mehr von Kasachstan. Das Land hab ich gestrichen.“ Und tatsächlich wird es besser: professioneller Empfang, sie checken Setra samt Chauffeuren in einer TÜV-artigen Prüfhalle komplett durch, und Hans-Peter Christoph gesteht fasziniert ein: „In ganz Freiburg gibt es keine solche Halle!“ Waschstraße, Desinfektion des Busses, und schließlich die erste chinesische Nudelsuppe unter roten Fahnen im Wind.

 

An den Ausläufern des Himmelsgebirges Tien Shan stehen die Jurten und Zelte kasachischer Nomaden und uigurischer Wanderarbeiter, sie bauen an der Autobahn der Zukunft. Schafsherden, Kamele, Adler ringsum, und auf dem Abhang prangen die überdimensionalen Schriftzeichen: „Die Natur der Heimat schützen!“ Erste Übernachtung im Städtchen Qing Shui, wo die Menschen mit den hohen Nasen enormes Aufsehen erregen: der erste Bus aus dem Westen. Jetzt übernimmt Linus das Kommando, ein junger deutscher Reiseleiter, der sonst Fahrradtouren durch China managt. Er erklärt die chinesischen Eigenheiten mit Liebe fürs Detail und ohne Beschönigung.

Erst ab 9 Uhr morgens erwacht Qing Shui, abends war es ja auch bis 23 Uhr hell: die Uiguren zählen von der ihnen aus Beijing aufgezwungenen Zeit – per Gesetz gilt im ganzen Land Einheitszeit – stillschweigend zwei Stunden ab, in ihrer Welt ist es also erst 7. Auf dem Dorfmarkt köchelt an ein paar Ständchen bereits Opke, eine nahrhafte Suppe mit Ziegenköpfen, gefüllten Darmschlingen und Knoblauch. Außerdem wird hier in Westchina Brot gebacken. Und Linus bringt der Gruppe die tausendjährigen Eier näher, nach dem Motto, täglich eine neue chinesische Spezialität.

 

Das Überholen eines DDR-Mähdreschers namens „Fortschritt“ sorgt im Bus für Raunen. Linus beginnt unterdessen mit dem Sprachkurs. Er erläutert wichtige Begriffe wie das „re nao“, also „Hitze und Lärm“, ein Synonym für den Trubel, der dort entsteht, wo Chinesen auf engem Raum feiern, essen, trinken. Dieses „re nao“ wird unbedingt angestrebt, und als die Gruppe in einem Straßenlokal bittet, die unerträgliche Lautstärke des Fernsehers runterzuschrauben, zerstört sie das lokale „re nao“. Die Chinesen sind laut, wild und entsprechen gar nicht dem Klischee der vergeistigten Kalligraphen. „Ist doch super“, erklärt ein Mitreisender erleichtert, „ein Land, in dem wir Deutschen nicht so auffallen, wenn wir nach ein paar Bier ein bisschen rumschreien.“

Urumqi, Großstadt in Chinas Westen, jene Metropole, die weltweit am weitesten von jeglichem Meer entfernt ist: Hier stehen Hochhäuser statt Jurten. Trotz nomineller Autonomie haben hier die Han-Chinesen gegenüber den Uiguren mittlerweile die Überhand. Im per Seilbahn erreichbaren salzkammergutartigen „Himmelssee“, auf 1.980 Meter, befeuchten Chinesen ihre Zehen. Ganz ins kühle Wasser solle man laut ihnen nie gehen, das Wasser (18 Grad) sei „too cold“ und (auf Nachfrage), „too deep.“ Hier bei Urumqi verabschiede ich mich von Hans-Peter Christoph und seinen Leuten. Sie debattieren schon über die nächsten Stationen, Turfan und Hami. Genau: das ist die Stadt der mehligen Melonen. „Für die vielen alten Chinesen ohne Zähne“, erinnert mich die Mitreisende an den roten Faden.

Heute erreichen sie übrigens Lanzhou.

 

Veranstalter: Avanti Busreisen, www.avantireisen.de, Blog mit aktuellen Reisedaten und GPS-System für Eruierung des aktuellen Standorts: http://busblog.athen-peking.de/ - weitere Fahrten für die nächsten Jahre in Planung.